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Vierter
Abschnitt.
heit; ihr sittlicher Charakter erringt zwar seine Achtung,
aber ihre Persönlichkeit imponirt ihm nicht; er fühlt
sich in jedem Augenblick Weit überlegen. Anziehend
aber musste ihr Umgang für ihn in seltenem Mass sein,
Weil er in ihr eine der Wenigen Seelen fand, welche für
sein neues dichterisches Ideal, für Stil und Inhalt der
"Iphigenie" empfänglich Waren. Was er ausarbeitete,
indem er die feinsten Nerven seines Wesens mit Aus-
schliessung aller gröberen Töne anklingen liess, Was dem
deutschen Publikum noch viel zu subtile und innerliche
Kunst schien, das fand bei dieser vereinsainten Malerin
beglückteste Anteilnahme.
Ein so nahes Verhältnis des Verständnisses oder des
gemeinsamen Strebens konnte sich zwischen Goethe und
dem in seinen Kreis aufgenommenen Aloys Hir t nicht
ausbilden; aber trotzdem bewies Goethe auch ihm Inter-
esse und Fürsorge. Er schätzte sein aufrichtiges
Streben, wenn er auch mit seinen Anschauungen über
den Wert des "Oharakteristischen" nicht übereinstimmte,
er schätzte seinen festen und ehrlichen Charakter, der
ihm Gunst und Gnade, auf die er in seinem Fortkommen
doch angeiviesen War, zu suchen erschwerte, und er
suchte ihm deshalb seinen Weg zu erleichtern. Kaum
drei Wochen, nachdem er in Rom eingetroffen, empfahl
er ihn Wieland für den "Merkur" als ständigen Bericht-
erstatter über römisches Kunstleben: „Er ist im Werden,"
schrieb er, „ein trockener, treuer, fleissiger Deutscher
. gern WüllSßht, ich einem Landsmann, der sich red-
lich in der Fremde nähren Will, zu helfen." Zugleich
machte Goethe aber auch Weitere, über das Persönliche
hinaus gehende Gesichtspunkte geltend; schon jetzt, kaum
nach Rom gelangt, Will er mittels des Merkur „etwas
Gutes beginnen", nämlich -ein Organ der Mitteilung
zwischen Deutschland und Italien schaffen; den Reisenden
soll es interessant Werden, um sie auf Italien vorzu-
bereiten oder nach der Rückkehr sie daran zu erinnern,
und diejenigen, Welche nicht reisen können, soll es für
die Entbehrung entschädigen?) Wieland jedoch lehnte ab.