erster
Goethe's
1786-
Aufenthalt in Rom
1787.
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Meinung, dass die Ausbildung der eigenen Individualität
nur den aussergewöhnlich begabten Künstlern zukäme
Während es den andern obliege, sich gesetzmässig zu
fügen und zu formen.
Bury erfuhr dabei kein Unrecht; denn seine spätere
Entwicklung hat gezeigt, dass er wohl im Porträt Tüchtiges
leisten konnte, dass aber zu selbstständigen mytholo-
gischen oder historischen Compositionen, nach denen an-
fangs sein Ehrgeiz sich streckte, die Begabung nicht
ausreichte.
Schon zu Anfang seines Aufenthaltes wurde Goethe
auch mit Johann Heinrich Meyer bekannt. Gleich
beim ersten Zusammentreffen fiel er ihm durch seine
kunsthistorischen Kenntnisse auf, indem er ein Bild des
Venetianers Pordenone verständnisvoll charakterisirte.
Bald fand Goethe in ihm den Lehrmeister, welchen er
suchte. Meyer hatte, wie wir schon sahen, das Systema-
tische, Geordnete in seinem Denken und Tun, was auch
in Goethe's Wesen eine so wichtige Seite, ein nicht weg-
zuwerfendes VäÜGFllOIIGS Erbteil bildete. Tischbein war
zu unruhig und springend, um Goethe auf die Dauer
(lenüge zu tun, wenn er ihm auch eine erste Einführung
in die römischen Schätze bieten konnte; mit Meyer aber
entwickelte sich ein Lebensverhältnis, wenn auch in
langsamem, allmählich sich entwickelndem Fortschritt.
Schneller reifte zu persönlichem NVert, aber ohne die Be-
dingungen dauernden Bestehens das Verhältnis zu
Angelika Kauffmann. Schon bald war Goethe in
dem idyllischen Hause auf dlrinita dei Monti bekannt
geworden und war der stillen und gehaltenen, aber doch
im Innersten unbefriedigteil Künstlerin der liebste
Seelenfreund geworden. Er wirkte auf sie wie Frau von
Stein auf ihn gewirkt hatte: er gab ihr Harmonie und
Ruhe, er söhnte sie mit ihrem Schicksal aus. Dagegen
vermochte sie ihm nichts zu geben, als die verständnis-
volle Empfänglichkeit ihres Gemüts; er rühmt sie als
"eine treffliche, zarte, kluge, gute Frau," aber er spricht
von ihr doch immer mit einer gewissen mitleidigen Weich-