Einleitung.
XIX
zu bedienen, dass sie aber einen Weit feineren Inhalt in
sie ergiessen, so dass die erste Forderungy die sie an
uns richten, immer die ist, ihren Sprachgebrauch zu unter-
suchen und festzustellen. Wen müsste es nicht zuerst
überraschen, wenn er liest, dass Goethe dem Laokoon
Qinmutit zuschreibt? oder dass Jakob Bur-ckhartlt, fern von
jeder moralisirenden Betrachtung der Kunst, doch von der
„kiinstlerischen hloralitat" der Maler und Bildhauer redet!
NVenn aber trotz dieser Einräumtiiig-eii in dem Aus-
spruch Winckelmamfs eine gewisse Einseitigkeit nicht
abzuleugnen ist, so ist diese doch vollständig; gerecht-
fertigt und gereicht ihm sogar zum Verdienst, sobald sie
historisch betrachtet und an Zuständen seiner nächsten
Vergangenheit und Gegenwart gemessen wird. Winckel-
mann hatte schon in Dresden eine krankhafte Kunst vor
sich gesehen, Welche in ihrer gesuchten Ueberbeivegiich-
keit und der rafünirten Künstlichkeit. der Stellungen und des
Faltenwurfs jeden Sinn für lllass und Selbstbeherrschung;
verloren hatte. Er stand in Rom den Werken der Nach-
folger des Bernini gegenüber; fand als hieisteristerke der
Plastik jene Apostelstatuen des Lateran und der Peters-
kirche gepriesen, die in der iiatterhaften Auflösung; der
Linien einen reklamehaften Eifekt suchen. Und gegen-
über solcher Entartung offenbarten die Werke des Alter-
tums ihm Hoheit, Adel und Reinheit des Styls, und Jeder,
der in der Villa Borghese oder Villa Ludovisi sich von
einer Skulptur Berninfs zu den Antiken gewandt hat,
wird ihm zustimmen, dass neben dieser plebejischen Nach-
barschaft in der TPat die Antike als „edle Einfalt und
stille Grösse" erscheint.
Wie wenn auf einmal in die Kreise
Der Freude, mit Gigwuitenscliritt,
(Geheimnisvoll nach Geisterweise
Ein ungeheures Schicksal tritt:
Da. laeug-t sich jede Erdengrösse
Dem Fremdling; aus der andern Welt,
Des Jubels nichtiges Getöse
Verstummt und jede Larve fällt,
"Und vor der Wahrheit mächtTgem Siege
Verschwindet jedes Werk der Lüge.