Einleitung.
XVII
gegriffen wird, seine ästhetische Theorie oder richtiger
sein ästhetisches Fhnpfindeii. Nicht seine Kunstgeschichte,
nicht seine divinatorische Würdigung" einzelner Vertreter
der höchsten griechischen Kunstepoche, die er in Boni
fand, riss die Zeitgenossen hin, sondern die Begeisterung,
mit welcher er gleich zu Anfang seines römischen Auf-
enthalts die dem Geschmack der Zeit leichter zug-ätngw
lichen Werke des „Belttedere", den Apoll, den Laokoon,
den Herkulesfllorso begrüsst und dithyrambisch geschildert
hatte. 3) Und diese Begeisterung stammte nicht aus
historischer Erkenntnis, sondern aus persönlicher, durch
bestimmte Theorieen geleiteter Empündungz
Winckelniaiin war in der ästhetischen Betrachtung
kein so selbständig schaffender Geist wie in der histo-
rischen; er stand hier mehr unter dem Einfluss der Zeit
und mancher grosser Vorgänger; trotzdem verdient seine
ästhetische Anschauung; welche für die nächste Greneration
massgebend wurde, durchaus nicht die Geringschä-tziing,
welche ihr nnocilernett Geister heute zu Teil werden
lassen. lli'as gab es denn unmittelbar vor llVinckelinanifs
Auftreten in Deutschland für eine Aesthetik? Nichts
als öde philisterhafte Gedanken über „Zwecke" der Kunst,
welche einem vernünftigen, gesetzten Mann allenfalls er-
lauben könnten sich mit ihr zu beschäftigen, oder wie
bei Baumgarten, küinmerliche Versuche ihr zu einer
selbständigen Stellung zu verhelfen, die zaghaft begonnen
zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt hatten. Da-
gegen nun Winckehnannls begeisterte, religiöse Ver-
ehrung der "Schönheit", die ursprünglich von Plato her-
stammend ihm besonders durch M engs, der sich ja auch
in der Theorie versucht hat, lebendig und triebkraftig
dargestellt, wurde! Wer sich gegen diesen Cultus der
Schönheit glaubt im Interesse der Wahrheit auflehnen
zu müssen, der erkennt nicht, dass durch ihn die Kunst
überhaupt erst in ihre Würde und Selbstherrlichkeit ein-
gesetzt wurde, dass die Betrachtung' erst durch ihn
wieder auf das eigentliche Wesen der Kunst zurückge-
Harnaclt, Kunstleben. II