Goethe's zweiter
in Bonn
Aufenthalt
1787-
1788.
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des relativ niedrigen Wertes bloss künstlerischer Voll-
kommenheit sicher zu stellen suchte. Er war auf den
Weg gelangt, den vollen Wert des Schönen in seiner
blossen, von allen Nebenzweoken reinen Erscheinung zu
erkennen, und machte auch praktisch in seinen heftigen
und energischen Kritiken von dieser Erkenntnis Gebrauch;
seine einseitige Verdammung' von "Kabale und Liebe" er-
klärt sich hauptsächlich aus seinem gesunden Hass gegen
alle sittlichen oder politischen Tendenzen in dem Kunst-
werke. lTm Moritz, Verdienst in dieser Hinsicht gerecht
zu tviirtligteii, muss man sich erinnern, dass das grosse
Revolutionswerk auf ästhetischem Gebiet, Kantls Kritik
der (Tteilskrafti, noch nicht erschienen war, dass sein
Satz von dem ,.interesselosen Wohlgefallen", welches das
Schöne erwecke, noch nicht die Nebel der lnoralisirenden
Beurteilung des Kunstgjeiiusses zerstreut hatte.
Durch den Verkehr mit Goethe hatte diese Grund-
anschzttiting- von dem selbständigen Wert des Schönen in
Moritz natürlich nur befestigt und weiter entwickelt
werden können. Aber sie wurde zugleich von jeder
nebelhafteti Phantastik fern g-ehalten, durch die klare und
sichere Beziehung, in welche Goethe stets Kunstübtmg"
und Natnrbetrachtung' setzte. Die Natur als Ganzes
schaute Goethe als wunderbztreii und in sich vollendeten
Organismus an, und indem er gerade damals in Italien
begann, dieser Anschauung durch Erforschung; der Ge-
setze organischen Bildens in den Pllanzen- und Tier-
formen eine wissenschaftliche (Üirundlage zu geben, so ge-
langt ihm zugleich eine Ahnung (lavoit zu gewinnen, wie
sich die Yollendung des Ganzen in den Einzelerscheinungen
widerspiegele und durch sie symbolisiert werde. So konnte
er an die Stelle der früheren beschrankten Vorstellung
von ästhetischer „Vollkomn1enheit", welche den einzelnen
Gegenstand isoliert fasste und nach dem Massstab seiner
direkten Nützlichkeit und Erspriesslichkeit für den Men-
schen beurteilte, den Begriff des .,Typische1r' setzen, wel-
cher das Ganze mit. seiner tinentllicheit, nicht darstellbaren
Harmonie in dem Einzelnen darstellbar werden lasst.