Goethe's zweiter
Aufenthalt in Rom
1787-
1788.
sie sich den alten romanischen Kulturnationen ebenbürtig
darstellte, der muss ihm seinen Dank zollen; ohne die
vorausgegangene zähe Arbeit dieser neun Monate hatte
Goethe jene Werke später nicht so dichten können Wie er
es getan. Schlechte buchhandlerisclie Spekulation hat dazu
geführt, dass die Schilderung dieser Zeit, weil sie in den
Ausgaben der "Italienischen Reise" meist fehlt 9), viel
weniger bekannt geworden ist als die ilbrigen Teile; und
doch ist sie viel inhaltreicher und sachlich Wichtiger als
die meisten von jenen: nur die Reise durch Sizilien ist
an Bedeutung ihr zu vergleichen.
Was Goethe (lamals in Rom dichtete, Egmont, Clau-
dine, Faustscenen, war noch kein Ausdruck des g'r0SSen
Stilgefühls, das er in sich entwickelte; aber in seiner Be-
schäftigung mit der bildenden Kunst, in seiner klaren
Erkenntnis des tiefen Zusammenhanges von Natur und
Kunstgesetzen, in seinem Bemühen, selbst plastisch zu
modelliren, lagen die Keime und vollzog sich das all-
mähliche Wachstum seiner neuen künstlerischen Ein-
sicht und Kraft. "Merkwürdig ist und bleibt es, von
wie unbedeutenden Lehrmeistern er Gewinn zu ziehen
wusste; in der Perspektive unterrichtete ihn Ver-
schaf feld t. Maximilian van Verschaffeldt war ein
Architekt von eifrigstem Streben, aber sehr massiger
Begabung, der noch dazu das Unglück hatte, „über seine
Kunst viel zu metaphisieren", wie sich die Herzogin
Amalie ausdrückte. Zu diesem kühnen Schwung war er
gänzlich tmgeeignet, da es ihm nicht nur an höherer
Bildung, sondern auch an dem Mass von Sprachbeherr-
schung fehlte. welches die erste Bedingung geordneten
Denkens ist. Ein später an Goethe nach Weimar ge-
richteter Brief über seine Kuustphilosophie, den Goethe
augenscheinlich ignorirt hat, gibt davon ein tragikomi-
sches Zeugnis. w) In Rom suchte Verschaffeldt Jeder-
mann für sein neues Schönheitsprinzip zu gewinnen,
welches alle Formen auf die Diagonallinie oder den „Drey-
angel" basirte. Und von diesem Manne lernte ein (Roethe,
und zwar Perspektive. Wie das möglich war, erklärt