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III.
DER
STIL.
objektiv möglich sind und also mit der natürlichen Erscheinung nicht
in Widerspruch stehen, dennoch im Bilde etwas liegen kann, was sich
als ein solcher Widerspruch auffassen liesse. Man denke sich z. B.,
das Bild eines ganz schlicht realistisch malenden Meisters, etwa
A. v. Werners, wäre zerschnitten und Teile davon kämen in die Hand
eines genauen Kenners des Künstlers, so könnte derselbe, trotz aller
Objektivität des Bilds, die einzelnen Teile doch dem Meister zuschreiben.
Der letztere mag nämlich noch so objektiv gemalt haben, so bleibt
doch in der inneren Gleichartigkeit der Darstellungsweise eine Er-
scheinung des Meisters an sich übrig. Allein es muss hier eben die
Thatsache konstatiert werden, dass die entsprechende Eigenschaft der
Bilder schlechtweg ertragen wird, weil der Künstler doch im Bereich
der objektiven Möglichkeit geblieben ist. Aber es ist nun ganz deutlich
geworden, wie der Begriff des Stils als Ausdruck des individuellen
Wesens mit dem Begriff der Stilisierung zusammenhängt. Übrigens
verhält sich der individuelle Stil zur natürlichen Erscheinung wie der
Materialstil: es kommt sowohl vor, dass er stilisiert, als, dass er nicht
stilisiert. Die Stilisierung durch das Material ist jedoch un-
umgänglich und an sich gerechtfertigt, während die Stili-
sierung durch das höchst individuelle Wesen des Künstlers
gegen alle künstlerische Absicht erfolgt und also an sich un-
gerechtfertigt ist. I) Wir selbst könnten in einem derartigen trans-
scendentalen Irrtum befangen sein, Welcher uns nicht irgendwie erkenn-
bar wäre; es lässt sich nicht beweisen, dass unsre Naturauffassung im
Gegensatz zu andern die richtige, objektive ist; indessen haben wir
doch guten Grund, das Letztere anzunehmen.
So also giebt sich die künstlerische Individualität als eine Be-
sonderheit auf dem Gebiet der Auffassung kund. Dasselbe ist nun
aber auch der Fall auf dem Gebiet der Materialbehandlung. Das
Material ist zwingend für die Prozedur; es giebt daher prinzipiell
nur ein einziges Gesetz der Technik, welches durch keine Indi-
I) Das war die Meinung Rumohrs, wenn er bei den Meistern überhaupt keinen
andern Stil als den Materialstil anerkannte. Die Thatsache, dass es eine Stilisierung
durch die Individualität giebt, brauchte er nicht anzuführen, da er bloss vom absolut
meisterhaften und tadellosen Stil sprach; indessen übersah er, dass doch eine nicht-
stilisierende Äusserung der Individualitäten im grössten Umfang stattfindet. Ferner
kommt immerhin auch bei grossen Meistern eine wirkliche Stilisierung vor, welche
nicht aus dem Materialstil erklärt werden kann und demnach höchst individuell ist,
Rumohr erkennt übrigens eine Erscheinung des höchst subjektiven Stils an, wenn er
sagt, dass sich alte und neue Kunstrichtungen durch den "Aufdruck der Örtlichkeit"
unterscheiden. (Vergl. a. a. O. S. 79).