NACHAHMUNG
UND
STIL;
MEISTERSCHAFT;
KLASSIZITÄT.
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oder gleichzeitig bei Künstlern und Publikum eine Gewöhnung an diese
Formen derart eintrat, dass denselben eine höhere Geltung als der
Natur beigemessen, dass sie als ein unumgängliches Erfordernis der
Vorstellung betrachtet wurden. Die Darstellungsweise der japanesen
dagegen dürfte vielleicht beruhen auf einerfÜbertragung des Verhält-
nisses gewisser Lineamente aus dem eigenen Volkstypus auf die Er-
scheinungen der Tier- und Pflanzenwelt. Ein weiteres Beispiel eines
subjektiven die Natur alterierenden Stils haben wir in unsrer eigenen
Geschichte an der F ormgebung der deutschen Künstler des I 5. Iahr-
hunderts. Verschiedene Kunstgelehrte haben sich bemüht, die knitterige
Darstellung des Faltenwurfs in den Werken derselben zu erklären; ein
Beweis, dass diese Erklärung keineswegs auf der Hand liegt. Semperl)
spricht vom hervorragenden Einfluss des Atlas auf Malerei und Skulptur,
welcher bei Dürer so recht bewusstvoll zur Geltung gekommen sei;
offenbar habe derselbe andere Zeuge vor Augen gehabt als Titian,
Paul Veronese und selbst Holbein. "Allein er sah tagtäglich dieselben
Stoffe wie diese Meister, und der dargestellte ist sicherlich nicht Atlas.
In seiner "Geschichte der Kostümez)" sagt Jakob von Falke: „Wenn
bei den Künstlern dieser Zeit und später bei Dürer, seinen Schülern
und Zeitgenossen, die Madonnen, die Engel und andere Personen frommen
Glaubens an den F üssen stets mit Stoffmassen, mit einer Fülle ge-
brochener Falten umwallt sind, so ist die Ursache in der Schleppe
des burgundischen Hofes zu suchen, nur ist der Unterschied zu be-
merken, dass bei den älteren und bei den niederländischen Meistern
zumal der mächtige F altenstil schwerer Brokat- und Sammtstoffe vor-
waltet, bei Dürer aber der Stil dünner, kleinknitteriger Seide." Als
Seide sind aber die Stoffe Dürers durchaus nicht charakterisiert, sondern
als Tuch mit vielfacher Verwendung einer unwahrscheinlich kleinen
Falte; Seide sollte auch in den Gewändern der Apostel gewiss nicht
dargestellt werden. Lübke führtö) die Erscheinung auf „eine malerische
Tendenz" zurück; in seinem "Grundriss" hat er dieselbe deutlicher
bezeichnet als "den Wunsch, durch die vielfach gebrochenen
Falten den Glanz des Goldes und der Farben zu erhöhen,"
übrigens aber auch auf die bauschige Modetracht der Zeit hinge-
wiesen. Man sieht, wie schwer der Sache beizukommen ist; auch diese
Umstände mögen mitgewirkt haben, aber eine befriedigende Erklärung
bieten sie nicht. Ein solches Gewebe giebt es nicht und hat es, wie
I) A. a. O. I S. 158 f.
2) Stuttgart, W. Spemann, S. 218.
3) Gesch. der Plastik, Leipzig x871
592.