DIE SCI-IÖNHEIT.
sich nach dem beschriebenen Gesetz auch die Schatten eines Gegen-
standes farben. (Lehre von den sogen. farbigen Schatten). Der Maler
aber, Welcher sinnliche Wahrnehmungen durch physiologische Lehren
ersetzen wollte, wäre, wie man so sagt, auf dem Holzweg.
Damit haben wir die physiologischen Thatsachen kennen gelernt,
Welche von hervorragender Bedeutung sind und mit welchen sich daher
die Ästhetik auseinandersetzen muss. Man hat als allgemein gültig
den Satz aufgestellt, dass die komplementären Zusammenstellungen die
schönsten seien. Man muss sich dabei erinnern, dass dies nunmehr
nicht die früher so genannten, sondern die nach physikalischer Fest-
stellung in Wahrheit komplementären Farben sind. Brücke sagt, dass
die Komplementepaare, wie sie sein Schistoskop liefert, durchweg an-
genehme Zusammenstellungen ergeben, und dem ist auch allerdings
beizupHichten. Allein gegen die Geltung jenes Satzes als Gesetz
sprechen wichtige Thatsachen: erstens ergeben im Bereich eines ge-
wissen Kontrastes und seiner Grenzgebiete nicht die Komplemente selbst
die schönsten Zusammenstellungen, sondern gewisse Abweichungen.
Z. B. „bildet das Spektralrot seine wirksamsten Kombinationen mit
Blau und Grün, den Farben, die zu beiden Seiten seines Komplementes
liegen", und unstreitig wird das Komplementepaar Blau-Gelb verbessert,
wenn das Blau etwas mehr gegen Violett genommen wird. Sicher
ist ferner, dass neben den Komplementärfarben auch solche schön
gefunden werden, welche keineswegs in diesem Verhältnis stehen, und
zwar in dem Masse, dass sie jenen sogar stets vorgezogen worden
sind. Dies gilt vor allem von den Farben Rot und Blau; seit es eine
künstlerische Thätigkeit der Menschen giebt, hat man diese Farben
mit Vorliebe zusammengestellt, vielleicht nur mit Rücksicht auf ihre
eigene Heiterkeit und Frische, jedenfalls aber öfter als Rot und das
entsprechende Blau-Grün; Tizian und Rafael kleideten ihre Madonnen
häufig genug in ein Rot und ein Blau, welche der Komplementarität
ganz ferne stehen; und heutigen Tages erfreuen sich diese Farben der
gleichen Beliebtheit. Wie endlich wollte man den hervorragenden
Reiz der Zusammenstellung von Purpurrot und Hellgrau aus der Kom-
plementarität erklären? Man könnte vielleicht sagen, in der Komple-
mentärfarbe finde das Auge schon vor, was es dem Gesetz der Nach-
wirkung zufolge selbst zu erzeugen geneigt ist. Ich hielte diese Ansicht
unter der entsprechenden Voraussetzung für plausibel genug. Aber
es ist doch nur soviel festgestellt, dass zwei Komplementär-
f arben in der Zusammenwirkung ihren Charakter kräftiger offenbaren,
dass sie sich gegenseitig heben und zu einer glänzenderen,
reineren und deutlicheren Erscheinung bringen, als dies