DIE EINZELNEN ERSCHEINUNGSFORMEN DER FORMELLEN SCHÖNHEIT.
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Bezüglich des Kontrastes der Farben muss noch festgestellt werden,
dass er sich in verschiedener Weise äussern kann; je nachdem sie
gleichzeitig oder nacheinander erblickt werden, entsteht der „simul-
tane" (gleichzeitige) und der "successive" (nachträgliche,
nachwirkende) Kontrast. In beiden Beziehungen äussert sich das
gleiche Prinzip, welches Brücke (a. a. O. S. 146) in die Worte fasst:
"Unsere Urteile sind koxnparativ und der Nullpunkt unserer Eindrücke
verschiebt sich, sobald uns ein Eindruck trifft, dem nicht sein Gegen-
satz, um ihm das Gleichgewicht zu halten, gegenübersteht." Die
Farbengegensätze aber bewegen sich auf dem Gebiet der Komple-
rnentarität. Grau wird also durch daneben liegendes Grün rötlich, durch
Rot blaugrünlich gefärbt; ebenso erscheint, wenn das Auge zuerst auf
eine rote, dann auf eine neutral graue oder weisse Fläche sieht, die
letztere grünlich. Derselbe Vorgang findet nun aber auch bei zwei
zusammengestellten Farben statt: sie beeinflussen sich gegenseitig in
der Richtung auf die Komplementarität zu. Was neben Gelborange
als Blau erscheint, das erhält neben Grüngelb eine kleine Tönung in's
Violette und neben Rot im Gegenteil eine Tönung nach dem grün-
lichen Blau zu. Indessen sind diese Einflüsse nicht sehr stark. Das
Verhältnis der Intensität beider Farben und die Zumischung von"
weissem Licht spielt dabei eine ziemliche Rolle. Überdies kommen
auch ausgleichende Wirkungen vor, wenn nämlich die Farbenllächen
klein genug sind, dass sich die Farben auf der Netzhaut des Auges
mischen z. B. bei rotgetupften Kleidern mit blauem Grunde, wo das
Blau in Violett, mit schwarzem, wo das Schwarz in Braun gezogen
wirdf) Für die kosmische bildende Kunst ist es gleichgültig, inwiefern
Der Farbeneindruck, den eine gewisse Quantität x beliebig ge-
mischten Lichtes macht, kann stets auch hervorgebracht werden durch
Mischung einer gewissen Quantität a weissen Lichtes und einer ge-
wissen Quantität b einer gesättigten Farbe (Spektralfarbe oder Purpur)
von bestimmtem Farbentone. Es kommt also auf den Farbeneindruck an, der
ausser Grau noch vorhanden ist und hieraus bestimmt sich die Komplementarität.
Gelbe und rötliche Tinten von geringer Lichtstärke bei verschiedener Sättigung
nennen wir braun. (Brücke a. a. O. S. 33 Z. 10). Hirth ist (a. a. O. S. Ioo Anm.)
anderer Ansicht; aber mir scheinen durch jenen Satz alle möglichen Kombinationen
erklärt zu sein, auch die "komplizierten Charaktere" des Spektrums.
I) Berücksichtigt man attsserdem das Auftreten von Reliexen, so ergiebt sich,
dass es sehr misslich ist, aus dem physiologischen Gesetz eine Regel etwa für das
Verhältnis der menschlichen Gesichtsfarben zur Kleidung zu machen: ein rotes Kleid
wird einem blassen Gesicht meist dienlicher sein, als ein blaugrünes. Allerdings
kann man durch eine intensiv rote oder orangefarbene Umgebung einem roten Ge-
sicht auch zu einiger Blässe verhelfen-