VORWORT.
EITDENI Kant die „Antinomie des Geschmacks" zu einem
Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gemacht hat,
glauben manche, einen unliebsamen Kritiker mit vermehr-
tem Nachdruck damit abfertigen zu können, dass jeder
seinen eigenen Geschmack habe. Allein der Schöpfer der kritischen
Philosophie hat diesem Gemeinplatz kein grösseres Gewicht verliehen,
als derselbe längst vorher hatte; er selbst nennt ihn einen „Gemein-
ort, womit sich jeder Geschmacklose gegen Tadel zu verwahren ge-
denkt."
Die Erfahrung lehrt, dass im Ganzen doch schliesslich eine viel
grössere Übereinstimmung des Geschmackes verschiedener Menschen
besteht, als sich mit jenem Satz vereinbaren lässt. Diese Überein-
stimmung steigert und verringert sich naturgemäss mit dem Wertder
beurteilten Kunstwerke. Der Grund einer Trübung oder
des ästhetischen Urteils kann aber liegen entweder in einer Ägiigenui,
genden Entwickelung des ästhetischen Empfindungsvermögeriisziein
Stumpfheit des Urteilenden von verschiedenem Grade; oder er liegt
in einer irrigen Anwendung von an sich unbestrittenen Prinzipien des
Schönen und in einer Verkennung dessen, auf was es in einem ge-
gebenen Kunstwerke ankommt; oder in der Einmischung von nicht-
ästhetischen Gesichtspunkten, z. B. ökonomischen oder ethischen. In
den letzteren Fällen wird durch augenblickliche Hinweise und Dar-
legungen des Verstandes sehr wohl etwas ausgerichtet werden können;
im ersteren nur durch allmähliche Erziehung, bei welcher freilich jene