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ein solches Urteil jedoch sinnlos. Denn bei den Erscheinungen, welche
wir als rhythmische bezeichnet haben, nämlich den Reihungen, kann
man nur sagen, der Rhythmus sei entweder gestört oder nicht gestört,
und jede rhythmische Gliederung ist da, wo sie überhaupt angebracht
ist, gleich schön. Der Ausdruck muss also einen anderen Sinn haben;
"Rhythmus" bedeutet hier nicht jenes eigentümliche Element der Archi-
tektur und Musik, sondern überhaupt "Bewegung"; "Eurhythmie" also:
"schöne Bewegung". Was will dies besagen?
Friedrich Vischer (Ästhetik S 57 I) meint, die Eurhythmie stelle
„ein andeutendes Bild des Weltalls als eines zur reinen Harmonie
geordneten Ganzen vor Augen." Das ist sehr tief gefasst, aber etwas
allgemein. Damit können wir also wenig anfangen.
Vitruv sagt im zweiten Kapitel des I. Buches seiner Architektur-
lehre (und daher stammt überhaupt, soviel mir bekannt ist, der Aus-
druck): „Die Eurhythmie ist das Ansprechende im Aussehen und ein
hinsichtlich der Zusammenstellung der Glieder behaglicher Anblick. Sie
wird erzielt, wenn die Glieder des Gebäudes im richtigen Verhältnis
der Höhe zur Breite, der Breite zur Länge stehen und überdiess alle
ihren symmetrischen Gesamtverhältnissen entsprechen." Dies scheint
lediglich dasjenige zu sein, was wir Proportionalität nennen, und zwar
insbesondere Proportionalität der körperlichen Massen. In dem ange-
zogenen Kapitel will Vitruv die "Grundlagen der Baukunst" zusammen-
fassen. Zu diesen zählt er naiv genug auch Grundriss, Aufriss und
perspektivische Ansicht. Aber trotz dieser Verquickung ist auffällig,
dass er von der Proportionalität hier nicht spricht, während doch
Symmetrie und (äussere) Angemessenheit besprochen werden. Wo
Vitruv ferner (Buch III, Kap. I) von Proportionalität spricht, stellt er
an, zu untersuchen, wie sich die letzteren zur Idee verhalten, ohne
welche Untersuchung eben nichts erklärt ist. Nun mag ganz richtig sein, dass, wie
Göller ausführt, "unser Wohlgefallen an der Schönheit einer bedeutungslosen Form
abnimmt, wenn deren Bild in unserm Gedächtnis allzudeutlich und vollständig wird."
Allein wenn die Verhältnisse in den Statuen des Lysippos tadelfrei sein sollen, so
muss dazu eine Veränderung dexvZweckbestimmung des menschlichen Körpers vor-
ausgesetzt werden, und sie sind nicht tadelfrei, wenn eine blosse Geschmacksrichtung
auf gestrecktere Verhältnisse der Bildung der unteren Extremitäten zu Grunde lag.
Die Veränderungen der Architekturstile lassen eine forrnalistische Erklärung zu
(es kommt nur noch darauf an, ob sie auch historisch zutriEt); aber ihr ästheti-
scher Wert wird durch eine solche Erklärung gar nicht betroffen. Darum ist es
eine blosse Täuschung, wenn man glaubt, durch Aufstellung eines Gesetzes der
Veränderung des formellen Schönheitsgefiihls bewiesen zu haben, dass alle Stile
gleichen Rang haben, zumal ein solches "Gesetz" blosse Hypothese ist und
bleiben muss.