DIE SCHÖNHEIT.
Kapitells. Die Beurteilung dieser letzteren Verhältnisse wird mög-
licherweise beeinflusst oder entschieden durch ein in uns vorhandenes
Gefühl der notwendigen Stärke tragender Glieder im Verhältnis zu
ihrer Last, das heisst aber soviel als durch das Zweckmässig-
keitsgefühl des organisch Schönen; und dieses scheint am
menschlichen und tierischen Körper vollständig über die Proportion
der Gliedmassen zu entscheiden. In der Architektur müsste dabei
naturgemäss auch das erscheinende Material eine Rolle spielen, sodass
bei Holzbauten eine Säulenweite als nicht unproportioniert erschiene,
welche uns bei Steinbauten beängstigen und dadurch ästhetisch ver-
letzen würde. Man könnte sich versucht fühlen zumal unsere Vor-
stellung von den schönen Verhältnissen hier eine ziemlich undeutliche
und schwankende ist anzunehmen, dass dabei überhaupt kein
formelles Gesetz, sondern allein die objektive Möglichkeit der Spann-
weiten, also das statische Gesetz, entscheidend sei. Allein hierdurch
wird nur die Grenze der Möglichkeit angegeben, und wir bleiben er-
fahrungsgemäss meist sehr erheblich hinter derselben zurück. Es ist
sicher, dass man bei übrigens guten Verhältnissen der Säule und des
Gebälks sogar im Steinbalkenbau, jedenfalls im Holzbau, die Spann-
weite gleich der Säulenhöhe nehmen kann; aber jedermann wird ein
solches quadratisches Verhältnis hässlich finden.
Es scheint also doch noch ein anderer Faktor mitzusprechen und
dieser Faktor kann nur ein bloss formelles Proportionsgefühl sein.
Dem mitwirkenden Faktor gegenüber verliert das Material erheblich
an Bedeutung, wenn freilich nicht alle. x)
1) A. Göller führt (a. a. O. S. 57 ff.) das Proportionsgefühl, und also die schöne
Proportion, allein auf Gewöhnung zurück. Damit ist gesagt, dass es überhaupt kein
wahres Gesetz der Proportionalität gebe. Möglich, dass sich dies so verhält. Die
Erfahrung scheint mir jedoch dagegen zu sprechen. Man kann sich freilich an
schlechte Verhältnisse gewöhnen; aber gewisse grosse und freie Räume werden seit
Jahrhunderten schön gefunden, andere findet man allgemein "gedrückt" oder „be-
engend", und kein Mensch wird die statischen Proportionen der archaischen dorisehen
Monumente für schöner halten, als diejenigen des entwickelten Stils. jene schlech-
teren Verhältnisse könnten aus der mangelnden Kenntnis der Baumeister von der
Festigkeit ihres Materials, die besseren aus dem zunehmenden Vertrauen auf das-
selbe erklärt werden. Einerseits hinderte aber die Gewöhnung nicht, dass man zu
besseren Verhältnissen griff, andererseits gelangte man nie zur Grenze des statisch
Möglichen. Dagegen möchte ich die Vermutung nicht von vornherein abweisen, dass
wenigstens kein mathematisches Gesetz der Proportionalität zu Grunde liege, sondern
die psychologische Empfindung, welche jene Bezeichnungen "beengend", "gross",
'„frei", "schwerfällig", "leicht" hervorruft und ihrerseits wohl auf verschiedene Ur-
sachen zurückgeführt werden kann.