Volltext: System der Künste

DIE EINZELNEN ERSCHEINUNGSFORMEN DER FORMELLEN SCHÖNHEIT. 
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führten Thatsachen ihre Begründung als eine nicht minder mangelhafte 
erscheinen, als sie es bei A. Zeising, dem Urheber derselben, gewesen 
war. x) Das Verhältnis entwickelter Glieder wird durch die Teilung 
nach dem goldenen Schnitt zwar stets ein gutes; aber dies könnte 
auch auf Gründen beruhen, welche keineswegs rein formelle, mathe- 
matische, sind?) 
Die üblichen Dimensionen von Büchern, Briefkouverts u. dergl., auf 
Welche sich die Freunde jenes Gesetzes für seine Geltung im Verhältnis 
von Rechteckseiten berufen haben, zeigen sehr oft andere Verhältnisse, 
welche dennoch gut sind. Dass endlich optische und perspektivische 
Einflüsse bei körperlichen Räumen eine so bedeutende Rolle spielen, 
dass mit einem derartigen Gesetz nichts geholfen wäre, liegt auf der 
Hand. Die Dimensionen der oben als Muster schönerVerhältnisse 
bezeichneten Räume dürften gar nichts mit demselben zu thun haben: 
Das Pantheon zeigt im vertikalen Schnitt über einem halben Quadrat 
einen Halbkreis, dessen Durchmesser die Quaclratseite ist; und der 
„goldene Saal" bildet ein Parallelepipedon, welches zwei nebeneinander- 
estellten Würfeln annähernd gleich ist (I00' Länge : 50' Breite : 
iy Höhe). Wir müssennes also einstweilen noch dem guten Geschmack 
und der künstlerischen Ubung des Auges überlassen, die schönen Ver- 
hältnisse aufzufinden. Bei entwickelten Gliedern mag man immerhin 
die Teilung nach dem goldenen Schnitt anwenden. S) 
Man muss sich übrigens, wenn man ein Gesetz der Proportiona- 
lität anerkennen will, klar machen, dass es auch eine Reihe von 
Proportionen giebt, welche nicht rein formell sind. Rein 
formell ist das Verhältnis der drei Dimensionen eines Innenraumes; 
nicht rein formell aber ist die Grösse des Intervalls zweier Säulen, 
ihre Stärke, ihre Höhe, die Breite des Architravs, die Ausladung des 
1)Vergl. die von Göller a. a. O. S. 75 gegen den "goldenen Schnitt" ange- 
führten Thatsachen. 
2) Nimmt man nämlich das zweite Glied gleich gross, wie das erste, so entsteht 
die entwickelungslose Teilung, welche wir zurückgewiesen haben; macht man es 
nur halb so gross oder noch kleiner, so entsteht der Eindruck der Schwäche, des 
Insichzurücksinkens und der Unfähigkeit zur Weiterentwickelung; es bleibt also nur 
eine Ausdehnung bis in die zweite Hälfte des grösseren Gliedes übrig und dem 
entspricht ungefähr auch das Verhältnis des goldenen Schnitts (8: 5). 
3) Man sollte sich doch wenigstens nicht dahin verirren, aus derselben eine 
Art mystisches Grundgesetz der Schönheit aller Erscheinungen zu machen. Wohin 
dies führen kann, zeigt sich bei Moritz Carriere: er bezeichnet die Einteilung des 
Dramas in vier statt fünf Akte bezw. die Verschiebung der Peripetie aus der Mitte 
des Dramas gegen dessen Schluss hin als Teilung nach dem goldenen Schnitt! 
(Ästhetik II, S. 598 o.)
	        
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