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DIE SCHÖNHEIZF.
Proportionalität.
Das messende Auge wird angenehm berührt durch bestimmte
Verhältnisse verglichener Masse. Hier spricht man von Proportio-
nalität. Die Proportionalität, das korrekte Grössenverhältnis, ist
gleich dem Linienfluss und der Raumkomposition, aber im Gegensatz
zu Richtung, Symmetrie und Reihung, nicht durch einen Begriff
bedingt, sondern tritt unmittelbar ein, sobald das Auge überhaupt
in die Lage kommt, Verhältnisse zu messen. Sie ist also ein rein
formelles Schönheitsgesetz. Dasselbe bestimmt sowohl das Ver-
hältnis von Flächen und angeschauten Körpern, als dasjenige
von Längen. Zunächst wirkt es in der Vertikale und ist hier der
Ausdruck einer geschehenden Entwickelung, des Auseinanderhervorgehen s
von Gliedern. Z. B. ist es erkennbar aus dem zweiteiligen Architrav
bei richtigem Verhältnis der anschliessenden Stufen. In der Vertikal-
entwickelung hat die Proportionalität den Charakter des Ungeschlossenen,
während Reihung und Symmetrie, jede dieser Erscheinungen in ihrer Art,
geschlossen sind. Wenn die proportionale Entwickelung nicht gestört
werden soll, dürfen hier niemals gleiche Teile aufeinander folgen.
Die Stufen des dreiteiligen Architravs werden meist nicht gleich gross
gemacht, obgleich hier schon durch das Hervorspringen der Platten
das Ansteigen versinnlicht wird; beim zweiteiligen Architrav aber ist
ein proportional ansteigendes Verhältnis notwendig erfordert. Das
Gleiche ergiebt sich aus dem Gesichtspunkte, dass das Haus ein ge-
dachter Organismus ist, für die Stockwerke des Hauses. Für die
Symmetrie ist da, wo eine vertikale Entwickelung stattfinden soll,
kein Platz: beim gleichmässigen An- und Absteigen derartiger Glieder
würden dieselben notwendig als für sich abgeschlossene, richtungslose
Einheit die Vorwärtsbewegung zerstören und aus dem Ganzen heraus-
fallen. Einen Architrav nach unten mit einer der Kopfleiste ent-
sprechenden Leiste abzuschliessen, ist deshalb ästhetisch verwerflich.
Die wichtigste Erscheinung der Proportionalität ist diejenige beim
Verhältnis der drei Dimensionen von Räumen. Als klassische Muster
dürfen der "goldene Saal" im Rathaus von Augsburg von Elias Holl
und das Pantheon in Rom angeführt werden.
Welche Verhältnisse die schönen sind, dafür liesse sich möglicher-
weise ein allgemeines Gesetz auffinden. Man hat als solches die Tei-
lung im sogen. „goldenen Schnitt" bezeichnet. Indessen lassen die
von dem neuesten Verfechter dieser Lehre, Dr. F. Pfeiferl), ange-
1) "Der goldene Schnitt"
etc., Augsburg
1885, „Mit vielen hundert Nachweisen."