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DIE SCHÖNHEIT.
nach sinnlichem Reize gelüsten, so würden wir uns durch ein frucht-
loses Sehnen gewiss um gegenwärtige Freude bringen". Eine Ver-
einigung letzterer Art ist in vielen Fällen unthunlich, weil in sich
widersprechend. Aber im allgemeinen ist doch nicht ersichtlich, warum
ein Gemälde nicht zugleich malerisch und plastisch schön sein und
einen bedeutenden Inhalt haben sollte, wie es ja bei Rafael häufig der
Fall ist. Die Ansicht, dass eine etwaige Unvollkommenheit der Werke
Michelangelds rücksichtlich der Färbung, eine Unvollkommenheit in
denjenigen der Venezianer rücksichtlich der Zeichnung, objektiv not-
wendig gewesen wäre, halte ich für eine irrige. Die vorliegenden In-
dividualitäten in ihrer Vollständigkeit und Abgeschlossenheit Wären
natürlich nicht vereinbarß) In jeder Kunst sind die verschiedensten
Kombinationen der einzelnen Seiten ihrer Wirkung möglich. Daraus,
dass verschiedene künstlerische Individuen in den verschiedenen Er-
scheinungsgebieten des Schönen bei ihren Darstellungen mehr oder
weniger einseitig thätig geworden sind, ergiebt sich eine Reihe von
eigentümlichen Kunstrichtungen. In der Malerei z. B. giebt es Künstler,
welche in erster Linie durch Farbe, wie die Venezianer, andere, welche
vorwiegend durch die Zeichnung, wie die F lorentiner, wieder andere,
welche hauptsächlich durch realistische Kraft, und endlich solche, die
vorzugsweise poetisch wirken. Man kann vom Beschauer ver-
langen, dass er in jedem Falle auf diejenige Seite der Dar-
stellung sein Interesse richte, auf welche der Künstler ein
hauptsächliches Gewicht gelegt hat. Allein ein vollständiges
Urteil muss auch das Verhalten der Künstler und der Schulen zu den
eigentlichen Zielen ihrer Kunst umfassen, je nachdem sie die letzteren
hintangesetzt oder in den Vordergrund gestellt haben.
C. DIE EINZELNEN ERSCHEINUNGSFORMEN DER
FORMELLEN SCHÖNHEIT.
(Linienfluss; Komposition in den Raum; Symmetrie; Massensubordination und
malerische Schönheit der Gebäude; Reihung; Proportionalität; "Eurhythmie."
Die ästhetische Farbenlehre.)
Einleitendes.
Eine bloss formelle Schönheit 2) ist vorhanden, wenn eine Form
Gefallen erweckt, ohne dass hiebei ein geistiger Inhalt, Gedanke
1) Vergl. Rumohr a. a. O. 111 S. 13.
2) Hiezu vergl. Semper, "Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten",
Frankfurt a. M. 1860, S. XXIII-XLIII.