DIE VERSCHIEDENEN BEZIEHUNGEN DER SCHÖNI-IEIT.
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männlichen Strenge abweichen dürfte; jene wird freilich allemal der
„Idee" näher stehen. Darin bestätigt sich, dass es in Wahrheit nur eine
einzige Vorstellung des vollkommenen Weibes giebt. Den konkreten
Ideen gegenüber kommt aber die Befriedigung durch das unmittel-
bare Anschauen um so leichter zu Stande, je einfacher ihre Voraus-
setzungen sind, d. h. je Weniger Sonderzwecke in ihnen gedacht
werden müssen. Daher ist vollständig zutreffend, was Fr. Vischer
(a. a. O. S I7) sagt: "jede Gattung ist die Besonderung oder Art
einer höheren Gattung je höher in dieser Reihe eine Idee steht,
desto grösser muss auch die Schönheit sein." Wenn er jedoch fort-
fährt: "Aber auch je die niedrigere enthält die wesentliche Bedingung
der Schönheit" so kann diese Bedingung nur die Realität der Vor-
stellung ihrer Besonderung sein. I)
"Charakteristisch" sind diejenigen Merkmale einer Erscheinung,
welche eine besonders deutliche Vorstellung des Wesens ihrer Indivi-
dualität geben. Man weiss, dass der Begriff des Charakteristischen
Goethe vielfach beschäftigte. In der That bietet die Bestimmung dieses
offenbaren Widerspruches mit der platonischen Idee die grösste
Schwierigkeit, wenn man nicht von dem Prinzip des Realismus aus-
geht. Vollkommenheit kommt dem Eigentümlichen, welches das In-
dividuum schafft, seiner Natur nach nicht zu. Wenn also das
Charakteristische gefällt, so kann es nur gefallen durch
Realität; es gefällt nebenbei durch Einheit, welche wieder begründet ist
in der Realität eines bestimmten Individuums Ich würde in
diesen Schluss aus Begriffen kein grosses Vertrauen setzen, wenn ich
ihn nicht in den Thatsachen durchweg bestätigt fände. Ich führe
beispielsweise an den Colleoni des Verocchio. Das Charakteristische
an ihm gefallt; dasselbe besteht aber darin, dass das Wesen eines
Kriegsmannes mit höchster Kraft in ihm zum Ausdruck gebracht
ist. Was der Oper "Carmen" ihren berechtigten Erfolg in erster
Linie eintrug, das ist die für unsere Empfindung unübertrefflich rea-
listische Darstellung des spanischen Nationalcharakters in Musik und
Dichtung d. h. eben das Charakteristische an ihr. Es muss nun aber,
wie mit der fortgesetzten Konkretisierung der Idee die Schönheit, so
mit der Menge der Merkmale der Individualität deren Klarheit und
realistische Kraft schwinden. Daher haben die obersten konkreten
Ideen, zunächst der platonischen Idee, den grössten ästhetischen Ge-
halt, welcher möglich ist, indem hier das höchste Wohlgefallen durch
ist in der Totalität
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integrierendes Glied
"weil jede ein
I) XVährend Vischer sagt:
der Ideen."
Alt, System der Künste.