Volltext: System der Künste

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1m: SCl-IÖNHEIT. 
wenig wie ein Minusß) Entspricht z. B. der schöne Bau der Schultern 
eines Mannes der für die physische Funktion vollkommen geeigneten 
Form derselben, so dürfen sie selbstverständlich nicht im Übermass 
entwickelt sein. Ebenso giebt es nur eine einzige Form des weib- 
lichen Beckens, welche schön ist. Daraus folgt, dass die organische 
Schönheit die Proportion der Glieder des Organismus bestimmt. 
"Grazie" als Schönheit der Bewegung verstanden ist die gewöhnlich 
auf Zweckmässigkeit der bewegten Organe gegründete absolute Zweck- 
mässigkeit einer Bewegung?) 
Kant nenntä) die in der Mitte aller wahrgenommenen Erschei- 
nungen liegende und also normale Vorstellung die "Normalidee". Es 
ist nun einleuchtend, dass diese Idee das Schöne nicht ausmachen 
kann. Dieselbe würde vielmehr ganz davon abhängen, ob man sie 
mehr aus schönen oder mehr aus hässlichen Erscheinungen gezogen 
hat. Polyklets "Kanon" näherte sich nur dadurch der „Idee des 
Mannes" an, dass ihm schon vorzüglich entwickelte Körper zu Grunde 
lagenß) Die Idee Platos" ferner, als der Gattungsbegriff, wäre völlig 
leer und würde ebensogut die hässlichen Individuen wie die schönen 
umfassen, wenn ihr nicht der Zweck zu Hilfe käme, aus welchem sich 
die Vollkommenheit, welche ästhetisch Schönheit ist, erst bestimmt. 
So trifft jedoch das organisch Schöne mit der von uns so genannten 
platonischen Idee, der sinnlichen Vorstellung, welche einem Gattungs- 
1) Dies betont Fechner (Vorschule der Ästhetik, II, S. 263 ff.) in der Darlegung 
seines "Prinzipes der ökonomischen Verwendung der Mittel". 
2) Damit ist der Schillefschen Ausführung widersprochen, dass Grazie immer 
nur die Schönheit der „durch Freiheit" bewegten Gestalt sei (im Gegensatz zu Be- 
wegungen, „die bloss der Natur angehören"). Das, was man vorwiegend Grazie, 
übrigens aber auch Anmut nennt, kommt eben zu einem grossen Teil nicht durch 
Freiheit zu Stande, sondern ist natürliche Anlage, während wir die im Antlitz er- 
scheinende seelische Schönheit, die aus Freiheit  in Schillefs Sinne  entsteht, 
gleichfalls Anmut nennen. Dass seine Fassung dieses Begriffes keine richtige ist, 
zeigt sich auch darin, dass er dem Tier die Anmut abspricht. Hunde, Pferde u. s. w. 
haben aber höchst anmutige Bewegungen. 
3) Kritik der ästh. Urteilskraft S I7 Abs. 5. 
4) Kant will desshalb diese Normalidee durch eine "Vernunftidee" ergänzen, 
die, wenn ich ihn recht verstehe, auf unser organisch Schönes hinausläuft. Allein 
nun ist die Normalidee ganz übertlüssig geworden. Ausserdem unterscheidet Kant 
von der Normalidee aber auch ein Ideal des Schönen, welches man lediglich von 
der menschlichen Gestalt erwarten dürfe und welches im Ausdrucke des Sittlichen 
bestehe. Es kann kein Zweifel sein, dass er unsicher war, ob nicht eigentlich dieses 
der die Normalidee ergänzende Faktor sei, was natürlich nicht zutrifft. Schiller, der 
dieses Schöne analysierte, stellte es mit Recht als besonderes Schöne neben die 
architektonische Schönheit.
	        
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