DIE VERSCHIEDENEN BEZIEHUNGEN DER SCHÖNHEIT.
Ist der Gegenstand ein organischer Körper, so besteht seine Schönheit
in der Vollkommenheit, mit weicher er das ihm eigentümliche Wesen
erfüllt, d. h. nichts anderes als: in der Zweckmässigkeit des
Organismus für die vorauszusetzenden Aufgaben seiner
Existenz und der Bestandteile desselben für die letztereß)
Sie lässt sich daher bezeichnen als das organisch Schöne, und die
Körper aller Lebewesen, deren Nachahmungen sowie die Werke der
Architektur und Redekunst werden in dieser Hinsicht ästhetisch beurteilt.
Hier liegt erstmals Schönheit im engeren Sinn des Worts vor. Die-
selbe ist mehr als sinnlicher Natur; aber sie wird nicht durch den
Verstand erfasst, noch kann die richtige Empfindung für sie durch
letzteren erbracht werden; sondern sie beruht auf einem unmittel-
baren Gefühl (der Zweckmässigkeity)
Die Zweckmässigkeit ist stets eine absolute, d. h. auch ein Plus
im Verhältnis von Kraft zur Last u. s. w. darf nicht vorliegen, so
I) Also nicht bloss der „innere Zweck" kommt in Betracht, wie v. Hartmann
anzunehmen scheint, sondern der innere Zweck, oder besser die inneren Zwecke
werden durch den äusseren, den ganzen Existenzgrund eines Dinges durchaus be-
stimmt. Daher spricht Schiller (vergl. dessen Abhandlung „Über Anmut und Würde",
Abs. 26) von einem System der Zwecke, „so wie sie sich untereinander zum
obersten Endzweck vereinigen."
2) Dieser Umstand drückt sich aus in der Kantischen Detinition: "Schönheit ist
Form der Zweckmässigkeit eines Gegenstandes, insofern sie ohne Vorstellung eines
Zweckes an ihm wahrgenommen wird", welche mithin unsere materielle Bestimmung
des organisch Schönen durchaus bestätigt. Dasselbe geschieht durch Schillers Aus-
führung in dem citierten Aufsatz; er nennt das organisch Schöne passend „architek-
tonisch Schönes" und sagt darüber folgendes: „Die architektonische Schönheit der
menschlichen Bildung muss von der technischen Vollkommenheit derselben wohl
unterschieden werden. Unter der Letzteren hat man das System der Zwecke selbst
Zu verstehen." Das anschauende Vermögen aber "hält sich einzig nur .an die Art
des Erscheinens, ohne auf die logische Beschaffenheit seines Objektes die geringste
Rücksicht zu nehmen. Ob also gleich die architektonische Schönheit des mensch-
lichen Baues durch den Begriff, der demselben zu Grunde liegt, und durch die
Zwecke bedingt ist, welche die Natur mit ihm beabsichtigt, so isoliert doch das
ästhetische Urteil sie völlig von diesen Zwecken, „Der Sinn, weiss man, hält
sich nur an das Unmittelbare, und für ihn ist es also gerade so viel, als wenn sie
ein ganz unabhängiger Natureffekt wäre." Also: wir empfinden die organische
Schönheit, ohne uns irgendwie den Zweck vorzustellen; erst nachträglich giebt uns
Erfahrung und Verstand davon Rechenschaft, dass das Schöne auch das Zweckmässige
iSt, oder, um in Schiller's Ausdrucksweise zu sprechen, dass die architektonische Schön-
heit der technischen Vollkommenheit gleich ist. Darin erweist sich die ihrer Natur
nach mysteriöse Thatsache, welche aber für die Kritik des ästhetischen Urteils
leicht von höchster YViehtigkeit sein dürfte dass die unmittelbare Anschauung
selbst mit der Logik übereinstimmt, ohne irgendwie durch sie bestimmt zu werden.