DIE NACHAHMUNG.
gemeinen Abstraktionen, wie denjenigen der Farbe oder des historischen
Kostüms u. dergl., sondern muss im einzelnen Fall untersucht werden,
ob solche Bestandteile untergeordnete sind oder mit der Idee nahe
zusammenhängen, wie z. B. die Blässe mit der Krankheit, die Röte
mit der Trunkenheit oder das mittelalterliche Kostüm mit einer Be-
gebenheit, die auf Voraussetzungen des damaligen Kulturlebens gegründet
und ohne dieselben nicht denkbar ist. Welche ergreifende Wirkung
eine aus Glas hergestellte Thräne machen kann, beweist die Madonna
von Montannez im Berliner Museum. Diese Wirkung ist eine ideale
und hängt mit der Idee der Schmerzensmutter enge zusammen, wäh-
rend ihre Vorstellung der Phantasie an sich nicht, namentlich aber
dann nicht zugemutet werden könnte, wenn letzterer ein objektives
Bild ohne die Thräne gegenüberstände. Unser Beispiel beweist, dass
scheinbar blos naturalistischen Bestandteilen einer Erscheinung ein
realistischer Wert zukommen kann, und dass sich desshalb von einem
solchen nicht schon desshalb, weil er ein naturalistischer ist, sagen
lässt, er sei ein untergeordneter und nebensächlicher.
Man muss also doch immer davon ausgehen, dass die Gegenstände
der wirklichen Welt in der Totalität ihrer sinnlichen Erscheinung nach-
geahmt werden, während sie Träger irgendwelches Schönen sein können.
Wir haben eben darauf hingewiesen, dass der Begriff des Idealis-
mus, welcher in der Kunst nichts anderes zu bedeuten hat als „Ten-
denz auf Darstellung des Schönen", dadurch verwirrt wurde, dass man
an Stelle des Schönen Gedankeninhalt forderte. Dies hat zur weiteren
Folge, dass man sogar die Unwirklichkeit der blossen Gedankenvor-
stellungen für das Schöne nimmtzl) man verwechselt „ideal"-schön
mit „ideal"-unwirklich. Gewiss würden aber die Meisten von denjenigen,
welche diese Vertauschung von Begriffen vollziehen, in grosses Er-
staunen geraten, wenn man ihnen sagen würde: „Du bezeichnest eine
Erscheinung desshalb als schön, weil sie nicht wirklich ist!" Die
Nichtwirklichkeit und das Schöne hängen nur insofern zusammen, als
sich der Kunstgenuss in blossen Vorstellungen abzuspielen hat.
Wenn wir nun aber an einem dargestellten Gegenstand irgend etwas
weglassen, wie z. B. am Bild eines Menschen die Farbe, so ist dies
doch offenbar keine Verschönerung oder Idealisierung, son-
dern etwas Negatives.
I) Auch v. Hartmann hat sich von der im Text gekennzeichneten Verwechslung
nicht freigehalten. S. 166 Abs. I nennt er den Begriff des ästhetischen Scheins „die
wahre Grenzscheide zwischen der Welt des Kunstschönenü) und der Welt der
NVirklichkeit."