DIE
REDEKUNST.
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ankündige und statt dessen ein Spiel der Einbildungskraft gebe. Der
Redner kann ein solches blosses Spiel treiben; allein wenn er Wahres
wahrhaftig vorträgt, so hört die Rede darum doch nicht auf, ein
Kunstwerk zu Sein; Kant meinte, die Rede müsse, um ein Kunst-
werk zu sein, durch den schönen Schein den Hörer hintergehen,
während die Rede doch nur für die ästhetische Beurteilung notwendig
"Schein" bezw. blosse Erscheinung ist. Er unterscheidet von der
Beredsamkeit die „Wohlredenheit (Eleganz und Stil)"; aber diese
Einteilung ist nicht haltbar, aus demselben Grunde. I)
Man muss vielmehr von der Beurteilung einer Rede aus dem
praktischen Gesichtspunkt die ästhetische Beurteilung unterscheiden,
obgleich der praktische Zweck die dem Kunstwerk zugrunde liegende
Vorstellung ist. Dies äussert sich darin, dass die Rede sofort als in-
teressiert erscheint, sobald etwas lügnerisches an ihr ersichtlich wird:
die Lüge ist auch hier unästhetisch. Damit ist aber bewiesen, dass
nicht die Redekunst an sich verwerflich sein kann, sondern eben nur
ihr Missbrauch. Freilich werden wir verhältnismässig selten in der
Lage sein, aus der Rede selber eine Tlntstellung der Thatsachen zu
erkennen, und dann wird thatsächlich das ästhetische Urteil mit dem
rein praktischen, nichtsittlichen, zusammentreffen. Aber dafür kann
man die Kunst nicht verantwortlich machen. Lehrt man sie ästhetisch,
so wird die ganze Lehre von jenen schlechten Kunstgriffen wegfallen,
weil dieselben ästhetisch gänzlich bedeutungslos sind, während sie in
der praktischen Lehre die grösste Rolle spielen müssen, sei es auch
nur, um sie bekämpfen zu lernen. S0 liegt das Verhältnis von ästhe-
tischer und thatsächlicher Zweckmässigkeit in der Redekunst. Bei uns
in Deutschland pflegt es durchschnittlich den Rednern nicht zu ge-
lingen, durch Schönrednerei den wahren Sachverhalt zu verschleiern
und die Hörer zu falschen Urteilen und Entschliessungen hinzureissen;
wenn es einmal geschehen sollte, so wird diese Verquickung vom
Scheine der Kunst mit der Wirklichkeit ein Anzeichen des Niedergangs
der Nation sein, wie sie es bei Griechen und Römern gewesen ist.
Vergl. K a n t ,
ästh.
Urteilskraft" S8