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DIE
REDEKUNST.
halb hat die Wissenschaft der Rhetorik auch abgesehen von dem rein
wissenschaftlichen Erkenntniszweck als Kunstlehre praktischen Wert
Aristoteles unterscheidet (rhet. I, 3) drei Arten der Rede, nämlich
solche Reden, welche einen Willensentschluss des Hörers herbeiführen
sollen (genus deliberativum), solche, die ihn zu einem Urteil über
schon gegebene Thatsachen bestimmen sollen (genus iudiciale) und
solche, die lediglich der einer Versammlung und dem Redner gemein-
samen, gegenwärtigen Empfindung mit Bezug auf eine gewisse Ver-
anlassung Ausdruck verleihen (genus demonstrativum oder laudativum).
Wenn man die letzte Art der Reden, zu welcher die Festreden und
Kanzelreden gehören, so auffasst, dürfte einleuchten, dass die Ein-
teilung des Aristoteles eine innerlich begründete, notwendige und er-
schöpfende ist. Dass ihre Grenzen in der Praxis fliessen, ist natürlich;
insbesondere werden Reden der ersten Gattung häufig Bestandteile
einschliessen, die eigentlich der zweiten angehören, oder es werden
Reden der dritten Gattung auch auf den Willen zu wirken suchen;
aber das ändert im ganzen nichts.
Mit dieser Einteilung hat die Frage, ob eine Rede ein ästhe-
tisches oder ein praktisches Gebilde ist, nichts zu schaffen. Auf den
Zuhörer soll jede Rede praktisch wirken, und über dieselbe geurteilt
soll dabei gar nicht werden, sondern eben nur über die etwa vorge-
tragenen Thatsachen. Aber man kann die Beredsamkeit entweder
praktisch oder ästhetisch auffassen und lehren. Ist ersteres der Fall,
so wird lediglich gefragt nach den besten Mitteln zum Zwecke. Hier
wird der Gebrauch von Lüge und Entstellung der Thatsachen in ein
System gebracht werden, wie es bei den Alten gelehrt und zu allen
Zeiten geübt worden ist. Als menschliche Handlung unterliegt eine
solche Rede der ethischen Beurteilung. Man kann dem Redner kei-
nen Vorwurf daraus machen, wenn er einen subjektiven Standpunkt
mit aller ihm zu Gebote stehenden Fähigkeit vertritt, und wenn er
die Thatsachen in das für denselben günstigste Licht zu setzen sucht
vorausgesetzt, dass es nicht schimptlich ist, diesen Standpunkt zu
vertreten; aber die Entstellung der Thatsachen ist unter allen Um-
ständen verwerflich. Derjenige, welcher sich auf den Standpunkt der
praktischen Lehre der Beredsamkeit stellt, wie sie die Alten übten,
wird jedoch hiergegen ganz gleichgültig sein; er wird auch in der
geschickten Handhabung der Lüge die Meisterschaft bethätigt finden.
Kant hatte daher recht, wenn er diese Redekunst als verächtlich be-
zeichnete; allein er ist in seiner Verurteilung doch zu weit gegangen,
insofern er nämlich die künstlerische Rede überhaupt als im Wesent-
lichen auf Täuschung berechnet ansah, indem der Redner ein Geschäft