IR haben gefunden, dass eine Mehrzahl der Baustile möglich
ist, indem man den Schwerpunkt der ästhetischen Be-
trachtung verlegt und von einem Ausdruck der Zweck-
thätigkeit vielleicht ganz absieht. Dies ist zweimal ge-
-schehen: Die Gotik machte die nackte Werkform in ihrer thatsächlichen,
rein objektiven Gestalt zum Gegenstand der künstlerischen Architektur;
sie konnte dann noch wirken durch die räumliche Ordnung dieser
Gestalt und durch Verzierung; aber sie war ausser Stande, der Idee
einen reinen ästhetischen Ausdruck zu verleihen und hatte keine
Kunstformen. Der Rococostil versuchte den struktiven Zusammenhang
ganz fallen zu lassen und durch blosse Formen schön zu wirken. Beide
Bauweisen stellen sich dar als einseitige Ausschreitungen; der eine
bleibt hinter dem Ziel zurück, der andere schiesst darüber hinaus, beide
haben das in ihrer Einseitigkeit Erreichbarägeleistet. Eine weitere
von dem klassischen Stil prinzipiell verschiedene Darstellungsweise der
Architektur ist nicht denkbar. Alle übrigen geschichtlichen Stile stellen
sich dar als Vorstufen, Fortbildungen oder Rückbildungen dieses letz-
teren oder lassen sich demselben wenigstens "einordnen, indem sie ent-
weder dem idealistischen Prinzipe folgen oder ihm wenigstens nicht"
zuwiderlaufen. Auch den Verfall der vbllständig ausgebildeten idea-
listischen Baukunst haben wir bereits erlebt; wir sollten ihn uns zur
Lehre dienen lassen. Ein neuer Stil im Sinn eines neuen Gestaltungs-
prinzips bezw. einer neuen Auffassungsweise der Architektur kann
nicht mehr erfunden werden.
Es wäre nun denkbar, dass wir uns der gotischen und der idea-
istischen Bauweise nebeneinander bedienen könnten; brachten doch
auch die Griechen verschiedene Stile zugleich zur Anwendung. In der
That haben wir den Bau jener hohen Dome, welche unsere Vorväter
planten, pietätvoll zu Ende geführt und sie uns dadurch zu eigen
gemacht. Ob dieselben aber deshalb Denkmale unserer Zeit sind, das
st mehr als fraglich. Denn wir vermochten ihnen nicht das geringste
Eigene hinzuzufügen, und sie sind das getreue Abbild einer längst