Volltext: System der Künste

DIE NACHAHMUNG. 
Die Tendenz auf Erzeugung von schönen Erscheinungen ist 
historisch vielleicht erst auf die blose Nachahmung gefolgt und wird 
wohl immer erst auf diese, als auf die Bedingung ihrer Grundlagen 
zu folgen haben. Bei den Ägyptern wenigstens, welche den Leib des 
Verstorbenen in der Mumie und in bildlicher Vervielfältigung für die 
Rückkehr der Seele aufbewahrtenf) war dies ohne Zweifel der Fall. 
jedoch kommt das Resultat des Bildes ja ganz allein in Betracht, wenn wir 
fordern, dass die Kunst Schönes darstellen solle, und ob die resultierende Erschei- 
nung schon an sich oder durch ihre künstlerische Behandlung (d. h. durch Anord- 
nung, Auswahl der Umgebung, der Lichtverhältnisse u. dergl.) schön wirkt, ist dabei 
gleichgültig. Die Kunst der Darstellung bringt nichts anderes zuwege, als eben 
Gegenstände unter im Bilde festgestellten Erscheinungsbedingungen. Übrigens soll 
das Prinzip des Idealismus von uns immer in diesem umfassenden Sinne verstanden 
werden. Deshalb sagen wir, die Kunst solle uns_ schöne Erscheinungen, und 
nicht, sie solle schöne Gegenstände vorstellen. 
I) Diese Thatsache wurde nachgewiesen von dem Ägyptologen Maspero in 
seiner „Histoire des ämes dans Plilgjipte ancienne, d'apres les monuments du musee 
du Louvre (Revue scientifique vom I. März 1879) sowie in mehreren Abhandlungen. 
Ich entnehme der „Histoire de Part dans Pantiquite", "Plilgyipte", von Perrot und 
Chipiez (autorisierte deutsche Ausgabe von R. Pietsclnnann, Leipzig 1884) folgende 
Sätze: „die allerlei Missgeschick ausgesetzte Mumie war etwas nur einmal Vorhan- 
denes. Ging sie auf die eine oder andere Art zu Grunde, was sollte dann aus dem 
Schemen werden? Durch diese beängstigende, qualvolle Frage kam man darauf, dem 
Schemen ein künstliches Substrat zu geben. Das war die Statue. Da die Kunst 
nicht bloss bis zur Wiedergabe der dem Verstorbenen eigenen Tracht und Haltung, 
zur Kennzeichnung seines Alters und Geschlechtes, sondern bereits bis zu einer 
hinlänglichen Charakteristik des Individuellen in seinem Aussehen und seiner Gesichts- 
bildung gediehen war, liess sich Porträtähnlichkeit erzielen". (Perrot a. a. O. S. 141). 
"Die Statuen waren dauerhafter als die Mumien, und nichts stand im Wege, deren 
eine beliebige Menge anzufertigen. Bot der Leib nur eine Wahrscheinlichkeit für 
das Fortbestehen des Schemens, so boten zwanzig Statuen zwanzig Wahrscheinlich- 
keiten dafür. Daher die wahrhaft erstaunliche Zahl von Statuen, die mitunter in 
einem und demselben Grabe angetroffen wird. Fromme Anverwandte liessen möglichst 
viele Bildnisse des Verstorbenen, eben Körper und Substrate seines Doppelwesens, 
herstellen, und verbürgten ihm dadurch etwas, was an Unsterblichkeit grenzte". 
(Maspero, im Bulletin hebdoinadaire de l'Association scientifique de France, No. 594). 
„Da aber der Bildhauer bei seiner Arbeit im Banne dieser Idee stand, war sein 
Ziel selbstverständlich die naturgetreue Wiedergabe der Züge des Modelles". (Perrot 
a.a. O. S. 572). "Man begreift, warum die ägyptischen Statuen, sofern sie nicht 
Götter vorstellen, stets und ständig vom Künstler möglichst exakt ausgeführte Porträts 
dieses oder jenes Individuums sind. Eine jede solche Statue war eben ein steinerner 
Körper, und zwar kein auf Schönheit der Formen oder des Ausdruckes berechneter 
idealer, sondern ein wirklicher Leib, bei dem man sich vorzusehen hatte, 
dass nicht das Geringste hinzugefügt wurde oder in.Abzug kam". 
(Maspero in Rayefs "Monuments de Part antique"). „So ist es zu erklären, dass 
damals Ägypten in Bezug auf Ausdruck meisterhafte, ja geradezu bewunderungswürdige
	        
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