VERHÄLTNIS
DER
GES CHI CHTLICHEN
BAUSTILE
ZUR
IDEE.
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Eine dritte Unwahrheit war die perspektivische Komposition der
Architekturwerke. Die Historiker bezeichnen meistens eine malerische
Tendenz als das hervorstechendste Merkmal des Barockstils. Male-
rische Erscheinungen, wie etwa die Burg von Nürnberg eine ist, hat
der Barockstil jedoch nicht hervorgebracht. Im Gegenteil betonte er
die organische, ihrem Wesen nach unmalerische Einheit so stark, wie
es jemals geschehen ist. Dagegen strebten seine Künstler im Rahmen
dieser Auffassung Effekte zu erzielen, welche eine Behandlung der
Architektur als nachahmende Kunst voraussetzen. Sie suchten und
erzielten nicht wesentlich malerische, sondern architektonische Erschei-
nungen, aber sie bedienten sich dazu eines seinem Wesen nach male-
rischen Darstellungsmittels. Die meisterhafte Beherrschung der
Perspektive, geübt und angeregt durch die Ausbildung der Theater-
dekoration, gab ihnen den Anstoss zu-dieser Ausschreitung einer an
Grössenwahnsinn streifenden Masslosigkeit des Kunstschaffens, welches
den Bedürfnissen eines religiösen Lebens entgegenkam, dessen Grund-
zug die Ekstase und eine sinnliche Schwelgerei im Übersinnlichen und
Unbegrenzten bildete. Die Werke der Architektur sind aber nicht
perspektivische Dekorationen, sondern reale Weltgebilde. NVenn also
an dem einen Punkte, für welchen das Architekturbild berechnet war,
der gewünschte Eindruck erzielt wurde, so lief diese Lüge auf kurzen
Beinen. Die Einseitigkeit der Wirkung der Skala regia im Vatikan
von Bernini giebt hiefür ein einfaches Beispiel. I) Indessen lässt sich
wo die Ordonnanz als dekoratives Element in Szene treten soll. Daher verfällt man
auf das Koppeln und Gruppieren der Säulen nach willkürlichster Ordnung, um diese
Rhythmik zu erzwingen; bald auch auf die geschweiften Flächen, deren Krümmungen
die Gebälke und Frontons nachzufolgen haben. Dieser leidige Kommodenstil wird
im I7. Jahrhundert auf die Fassaden übertragen, er fängt an, die ganze Architektur
zu beherrschen." „Die Schweifung der NVandflächen ist bei hölzernen Struk-
turen an sich durchaus nicht prinzipiell verwerHich, vielmehr spricht die F urniturarbeit
den geschweiften Formen entschieden das Wort. Das Unheil besteht nur in der
monumentalen Behandlung dieses Motivs." Ich finde, dass Semper im letzteren
Punkte der Möbelschreinerei für die Theorie doch zu viel eingeräumt hat. Das
Holzmaterial besteht überwiegend in geschnittenen Brettern; an gewachsene Bie-
gungen denken wir beispielsweise bei geschwungenen Stuhlfüssen nicht, sondern
erinnern uns an die durchschnittlich geradlinige, nun durchbrochene Struktur des
Holzes. In Bronze wäre derselbe Fuss entschieden erfreulicher. Die gerade Hori-
zontale und Vertikale haben auch hier ihre Bedeutung als subjektives Regulativ des
Anschauens. Allein wir dürfen dem Kunsthandwerk eine grössere Freiheit gewähren,
weil ihm eine leichtere, spielendere Behandlung beim Zurücktreten der Bedeutung
der Idee wohl ansteht.
1) Vergl. Gurlitt a. a. O. S. 413.