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DIE
ARCHITEKTUR.
Sinn beigelegt haben, die Verwendung derselben seitens der Barock-
künstler ein mehr oder weniger unverständliches Kauderwälsch dar-
stellt; dass mindestens überall da, wo die Eigentümlichkeit des Barock-
stils in der Handhabung der Formensprache hervortritt, der ideelle
Zusammenhang derselben zerstört ist. Die Folge ist ein Gefühl des
Unbefriedigtseins, des Ungenügens, welcheS Seiner Natur nach un-
ästhetisch ist. Man hätte sich, um wieder relativ befriedigen zu kön-
nen, unter Aufgabe aller ideellen Formen ganz in das Gebiet der
formellen Schönheit begeben müssen, wie es der Rococostil in genialen
Leistungen gethan hat.
An diese Unwahrheit des Ausdrucks schliesst sich eine Unwahr-
heit in der Gestaltung des Materials. Die Form des Schnörkels wider-
spricht der inneren Natur des Steins, wenn sie das Gestaltungsprinzip
geschichteter Mauern bildet, so wenig gegen diese Gestaltung der
Oberfläche eines einzelnen Steinklotzes, wie bei der Konsole, einzu-
wenden ist. Das statische Gesetz der Schwere, dieser hervorragenden
Eigenschaft des Steinmaterials, erscheint für unser Gefühl als vertikale
gerade Linie, jede lagernde Fläche als eine horizontale Ebene. Viel-
leicht hängt damit ein Gesetz zusammen, wonach überhaupt nur ein-
fache, leicht verständliche und bestimmt abgeschlossene Kurven in der
hohen Architektur zur Verwendung gelangen dürfen. Die Fassung
der ganzen Masse in weichlich geschwungene, aus- und einwärts ge-
bogene Konturen ist sowohl materialwidrig, als für das blosse Form-
gefühl durch seine Unbestimmtheit verletzend. Dies gilt auch für
komplizierte Biegungen des Grundrisses, welche schliesslich, wie am
Oratorio S. F ilippo Neri und anderen Werken des Borromini, ganz
abscheulich aussehen. Dass der Grundriss des Gebälks übrigens ge-
bogene Gestalt annehmen darf, haben wir zugegeben; auch vertikal
mag sich ein Gesims biegen, wenn es in seiner ganzen Längenausdeh-
nung auf einer entsprechenden Stütze aufliegt und die StirnHäche einer
Bedachung bildet. Die vertikale Kurvatur des frei lagernden Balkens
dagegen hat sich selbst der vorgeschrittenste Barockstil in Italien nicht
zu Schulden kommen lassen. I)
1) Sempers Urteil ging dahin: „In Italien nimmt die Renaissance einen noch
unerfreulicheren Ausgang; gegen das Ende des '16. Jahrhunderts kommen dort die
hohen architektonischen Altaraufsätze in Aufnahme, gewaltige Bilderrahmen, an denen
die bereits auf feste Kanons schematisch zurückgeführten Säulenordnungen, schwere
monumentale Gebälke, verbunden mit Inkrustationen, kurz allen ersinnlichen Mitteln
der Ausstattung verwandt werden. Das an und für sich arme Motiv gestattet keine
einfache Entwickelung der Säulenrhythmik, welch' letztere unbedingt notwendig wird,