VERHÄLTNIS
DER
GESCHICHTLICHEN
BAUSTILE
ZUR
IDEE.
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symbolische Beziehungen. Allein seine Nachfolger verhielten sich
nicht lediglich subjektiv, sondern standen vielmehr unter bestimmten
gemeinsamen Tendenzen. Diese äusserten sich nach Wölfflin!) zuerst
in einer Steigerung der Grösse und Massenhaftigkeit, ferner der Ein-
heitlichkeit, sowohl des ruhenden Raumes als der Gliederentwickelung,
bei Vereinfachung und teilweiser Ausmerzung des Details. Darauf
folgt ein fortschreitendes „Behagen an der dumpfen Ausbreitung der
Masse. Die Treppenanlagen werden so gesenkt, dass das Gehen
unbequem wird. Dieses Nachgeben gegen die Schwere führt zu Er-
scheinungen, wo die Form unter der Gewalt der Last wirklich leidet."
An die Stelle des richtigen Verhältnisses von Kraft und Last tritt ein
peinliches Ringen der ersteren, dessen Ausgang zweifelhaft ist. Die
Materie wird „saftig und weich, das Harte und Spitzige wird abge-
stumpft, das Eckige gerundet." Die ganze Mauermasse fangt an, sich
zu bewegen, in einem aus- und einwärts geschwungenen, jede be.
stimmte Begrenzung scheuenden Grundriss zu zeriiiessen. Es sind die
Symptome der Auflösung eines Leichnams. Schliesslich „bricht die
rohe Masse herein," ungeformte Felsblöcke treten an die Stelle von
struktiven Gliedern.
Die Gründe dieser Entwickelung des Stils hat Wölftlin (a. a. O.
S. 58 ff.) in vorzüglicher lrVeise dargestellt. Nur möchte ich bemerken,
dass es vielleicht besser wäre, den Geist ihrer Urheber zwiespältig und
unbefriedigt lasciv und asketisch zugleich als ihn ernst zu
nennen, und dass der formal-ästhetische Grund des Verlangens nach
stärkeren F ormenreizen höchst wahrscheinlich neben der idealen Tendenz
gewirkt hat, indem er sowohl von ihr eingeschlossen als ihr Anstoss
gewesen sein kann. 2) Wir haben die neue F ormengestaltung ästhetisch
zu beurteilen. Sie bestand hauptsächlich in der Nichtachtung der
ideellen Formensprache zu Gunsten formeller Reize. Wir haben jedoch
oben festgestellt, dass dieselbe eine unmittelbar verständliche ist.
Solange man noch irgend welche ihrer Bestandteile, sei es auch in
zerstückelter Gestalt, verwendete, konnte man dieselben daher un-
möglich zum Schweigen bringen. Wenn aber jemand sogar die un-
mittelbare Verständlichkeit leugnen würde, so müsste er doch zuge-
stehen, dass für alle diejenigen, welche diesen Formen einmal einen
I) Heinrich Wölfflin, "Renaissance und Barock," München 1888, S. 24 ff.
2) Damit ist, Wie schon einmal, die Richtigkeit der Ausführungen Ad. Göllers
in einer Beziehung anerkannt. Die Thatsache ist so einfach und selbstverständlich,
dass eine exakte Darstellung ihrer Gründe, wie sie Gölier anstrebt, für die Ästhetik
überflüssig ist.