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ARCHITEKTUR.
ein Bedürfnis nach Ruhe der Sinne und nach vermehrter Beschäftigung
des verständigen Geistes einstellte. In diese Zeit fällt der tiefste Stand
der bildenden Kunst, welchen die neuere Kunstgeschichte, ja vielleicht
die Kunstgeschichte überhaupt kennt. Sein besonderes Kennzeichen
ist der völlige Untergang der technischen Kleinkunst. Die Über-
schätzung der geistigen Seite der Kunst führte zur Nichtberücksichti-
gung und infolgedessen Unkenntnis der materiellen Bedingungen, unter
welchen dieselbe ihre Werke hervorbringen muss, d. h. zu vollendeter
Stillosigkeit; das Kunsthandwerk selbst aber wurde durch Mangel an
Beschäftigung und durch andere, äussere Umstände politischer und
sozialer Art ausser Stand gesetzt, in seinem Bereich Wenigstens eine
Tradition der unabänderlichen Gesetze des Schaffens der technischen
Künste festzuhalten. Allein es wäre unbillig, wenn man die ganze
Schuld an diesen Verhältnissen dem Klassizismus aufbürden wollte.
Er bildete vielmehr in seiner letzten Form nur die entschiedenste
Reaktion gegen den tollgewordenen Subjektivismus des Barockstils und
gegen den einseitigen Formalismus des Rococostils. Die Zerstörung
des Gleichgewichts der bei der ästhetischen Anschauung der Werke
der Baukunst notwendig beteiligten Seelenkräfte, ihr oppositionelles
Auseinandertreten, bildete die wahre Ursache des Niedergangs; die
zersetzenden Kräfte wirkten auf jener Seite. Ein neuer Aufschwung
wurde erst möglich, als dieselben erschöpft waren; er musste bestehen
in einer Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts, in dem Er-
wachen eines gesunden Instinktes. Die Erhebung der griechischen
Antike zum Ideal der Kunst war bezüglich der Architektur von einem
doppelten Missverständnis begleitet; einmaldes Prinzips dieser Kunst,
indem man nunmehr die griechischen Bauwerke allein für "klassisch"
und organisch ansah; sodann des neuaufgefundenen Vorbildes selber,
indem man sich "eine falsche Vorstellung von demselben machte.
Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass mit dem Zurückgehen auf die
Quelle der römischen Baukunst die neue Lebensthätigkeit anhob.
Man musste noch einmal von vorne anfangen, um an die Stelle einer
blossen Nachahmung der Antike und der Opposition des Subjektivismus
gegen dieselbe ein freieres Schaffen nach ihren Prinzipien zu setzen.
Der Name Schinkels bezeichnet die Wende der Entwickelung!)
Michelangelo eröffnete den Barockstil dadurch, dass er die antiken
Kunstformen seinem künstlerischen Belieben unterordnete. Er strebte
Neues an teils im Gebiet der formellen Schönheit, teils vielleicht durch
I) Vergl.
Gurlitt,
"Geschichte
des
Barockstiles
Frankreich"
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