VERHÄLTNIS
DER
GESCHICHTLICHEN
BAUSTILE
ZUR
IDEE.
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Nun ist aber einleuchtend, dass eben dadurch andererseits eine
grossartige Einheitlichkeit des F ormprinzips erreicht werden musste,
welche schon an und für sich etwas Schönes ist. Ferner bildet das
System der Stützen, welches das ganze Gebäude dessen symmetrischem
Grundriss entsprechend umgiebt, eine rhythmische Gliederung von un-
streitig grosser formeller Schönheit. Die Verschneidungen und per-
spektivischen Kombinationen der verschiedenen räumlichen Bestandteile
gewähren einen überaus malerischen Anblick, und die Einzelornamente
umgeben das erhabene Ganze mit bezauberndem Reiz. So erklärt es
sich, wie unser ästhetisches Gefühl bei unbefangener Betrachtung der
gotischen Dome in solchem Grade befriedigt, ja entzückt wird, dass
der von Seite des Idealismus bestehende Einwand gar nicht zu Wort
kommt. Es würde aller Erfahrung und der natürlichen Empfindung
widersprechen, wenn wir diese grossen Kunstwerke mit Schopenhauer
schlechtweg verwerfen wollten.
Dagegen muss noch bemerkt werden, dass infolge der Einseitig-
keit des gotischen Stils die hohe monumentale Malerei dem Archi-
tekturwerk entfremdet wurde, weil die zu ihrer Entfaltung notwendigen
Flächen beseitigt waren ein Ergebnis, welches weder ein glückliches
genannt werden kann, noch dem traditionellen und anscheinend natur-
gemässen Verhältnis der Architektur zu den übrigen bildenden Künsten
entspricht. In den künstlerischen Motiven herrscht im Verhältnis zu
der Grösse der Werke unstreitig trotz alles Reichtums der Ornamentik
anzuführen pflegt. Ich halte es für zufällig, dass sich der Stil zu diesem Vergleich
gebrauchen lässt; denn die Absicht, welche die Erfindung seiner Hauptbestandteile
veranlasste, war eine bestimmt künstlerische. Die Askese führt gewiss nicht zu einer
Steigerung des Formenreizes und der Pracht des Gotteshauses, und die reine reli-
giöse Empfindung war damals keine andere, als zur Zeit des romanischen Stils oder
der Renaissance. Die Vorstellung des der Stufenpyramide ähnlichen Systems, welches
sowohl die Hierarchie als der Feudalstaat darstellte und welches man für das Bild
der Ordnung selbst halten mochte, könnte vielleicht mitgewirkt haben. Der Lehns-
staat zeigt allerdings eine gewisse Geistesverwandtschaft mit dem gotischen Dom.
Wie dieser an Stelle eines der freien Entfaltung aller individuellen Kräfte gewid-
meten, wahrhaft organischen Gemeinwesens sich mit dem äusserlichen starren Sche-
matismus einer Anzahl gegenseitig subordinierter Vertragsverhältnisse begnügte, so
war die gotische Architektur mit dem bloss thatsächlichen Zusammenhang der Ge-
bäudeteile zufrieden, ohne den Mangel des ästhetischen Organismus zu empfinden.
Dass Naturnachahmung, die Nachahmung des Waldes, bei der Erfindung des Stils
nicht beteiligt war, bedarf wohl keiner Ausführung mehr. Wenn dieselbe später in
der That aufgetreten ist, so war dies ein Symptom des Verfalls, welches auch den
Niedergang des klassischen Bciustils in der Barockzeit begleitet. Vergl. Schnaase
a. a. O. IV, S. 205-237-