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DIE
ARCHITEKTUR.
Einheit auffasst. Die Baumeister des Pantheons, der Kuppeln von
S. Peter in Rom und von S. Paul in London konnten der Widerlager
für den Seitenschub der Gewölbe ebensowenig entraten, wie derjenige
des Kölner Doms. Aber sie hielten es für ein erstrebenswertes Ziel,
die Mühseligkeit der materiellen Existenz dem Auge des Betrachters
zu entziehen, ihm die Anschauung der Idee rein zu gewähren, während
die Meister der Gotik jene zum Kunstmotiv machten und diese völlig
bei Seite schoben. Wer jedoch die erforderte technische Kenntnis
nicht hat, dem bleibt verschlossen, warum ein solcher Aufwand von
äusseren Stützen erfordert war, um die verhältnismässig dürftigen
Innenräume zu errichten, und ein sehr feines Gefühl wird ohne alle
Rücksicht auf die Idee des Hauses, dieses Missverhältnis mit demselben
Unbehagen empfinden, wie den Zusammenstoss der schneidend vor-
dringenden Spitzbogen mit der unvermeidlich darüber hinlaufenden
Horizontalen. Dass der Entwickelung des Stils das Streben nach
„Entmaterialisierung des Gebäudes charakteristisch" ist, I) haben wir
dargelegt; allein man kann nicht sprechen von einer "schranken-
losen Vergeistigung der Materie," von „cler höchsten bis jetzt erreich-
ten Befreiung von den Fesseln des Materials" (Lübke), ohne das Ver-
ständnis des Sachverhalts schwer zu beeinträchtigen. In deriHaupt-
sache verhält es sich gerade umgekehrt: das Bedürfnis und die Materie
hatte gesiegt über den Gedanken. jedes vollendete Kunstwerk setzt
natürlich die Überwindung der Materie voraus; aber dem vorliegenden
gebührt sogar in der Beziehung nicht das höchste Lob; denn die
Baumeister Roms und der Renaissance schufen auch rein technisch
viel grösseresß) während an den gotischen Domen die konstruktive
Lösung im ganzen eine zaghafte war und die Leistung der Stützen
über das absolut erforderliche Mass hinausgeht, S) obgleich sie ästhetische
Glieder geworden waren. Um diejenige „Lösung," welche wir als das
eigentliche Ziel der Architektur ansehen, um die Verkörperung der
Idee, handelte es sich hier gar nicht; man hatte diese Aufgabe ver-
gessen, indem man sich einer einseitigen Empfindung, welche die
Stilentwickelung bestimmte, mit Leidenschaft hingabß)
1) Robert Dohme, "Geschichte der deutschen Baukunst", Berlin 1887, S. 203.
2) Der Querschnitt des ganzen Kölner Doms samt seinen Seitenschiffen findet
Raum in demjenigen des Panthöons, dessen herrliche Gestalt keines ähnlichen Stützen-
apparates bedurfte. Vergl. das Diagramm bei Durm, "Römer", S. 188.
3) Vergl. Dohme a. a. O. S. 194; Lübke a. a. O. S. 505.
4) Wenn ich mich so ausdrücke, so meine ich die rein ästhetische Tendenz,
ohne auf den spiritualistischen Zug des Mittelalters anznspielen, welchen man hier