Volltext: System der Künste

VERI-IÄLTNIS 
DER 
GESCHICHTLICHEN 
BAUSTILE 
ZUR 
IDEE. 
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der Vertikaltendenz entgegen: man errichtete über dem Punkt, wo er 
den Seitenschub aufnahm, noch eine turmartige Spitze, die Fiale, 
welche dann als Zierglied alle mögliche anderweite Verwendung fand. 
Über die spitzbogigen Fenster und Portale trat der steile Giebel, 
dessen Raumkomposition sie bildeten (die Wimperge). Das Kapitell 
der "Dienste" war keine Kunstform mehr, sondern die äusserliche 
Andeutung einer gegen die volle Konsequenz freilich verstossenden 
und daher schliesslich auch noch aufgegebenen Cäsur. Man endete 
mit der Iiligranartigen Durchbrechung aller Flächen, welche dies irgend 
zuliessen, sogar des Daches, wo dasselbe, wie über den Türmen, steil 
genug errichtet werden konnte. 
Der thatsächliche Organismus des Bauwerks wurde dabei klar vor 
Augen gestellt. Man hat denn auch nicht verfehlt, den gotischen Stil 
für den höchst, für den eigentlich organischen Stil zu erklären. I) Seine 
Werke sind jedoch das gerade Gegenteil des ästhetischen Organismus. 
Das Wesen der Gotik besteht darin, dass sie die nackte 
Werkform als solche zum eigentlichen ästhetischen Gegen- 
stand machte, indem sie die ausserhalbi der Raumidee lie- 
genden, lediglich materiell bedingten Gewölbstützen zu 
einem wesentlichen Bestandteil der künstlerischen Gestalt 
des Gebäudes machte. Allein die Zweckmässigkeit dieser Stützen ist 
zwar durch Einsicht in die Konstruktion, aber nicht unmittelbar ver- 
ständlich. Noch andere Formen wurden im wesentlichen ganz durch 
den praktischen Zweck bestimmt, das Gesims wurde als Wasserschlag 
profiliert. Die Proportionen von Gebäudeteilen, welche unmittelbar 
dem Gebrauch dienten, richteten sich ganz nach diesem letzteren und 
nicht nach der verschiedenen Grösse des Bauwerks; so die Portale?) 
NVir haben bei Gelegenheit der systematischen Darstellung des idealen 
Stils (s. o. S. 194 f.) anerkannt, dass mit der Einführung des Keil- 
steinbogens in die Baukunst die Idee im Material nicht mehr rein auf- 
gehe, dagegen festgestellt, dass sich das unmittelbare ästhetische Em- 
pfinden hieran nicht kehrt, sondern vielmehr das Gewölbe als unthätige 
x) Schnaase empfand jedoch sehr wohl, dass dieses Urteil seine Bedenken 
habe, indem er aussprach, es sei fraglich, ob nicht "jener freie, mehr geistige als 
natürliche Organismus des griechischen Gebäudes" eine höhere Schönheit habe. 
Vergl. Schnaase, "GESCIL d. bild. Künste", Düsseldorf 1871, IV, S. 86. 
2) Vergl, Viollet-le-Duc, Dictionnaire V, s. u. echelle: "Der Mensch ist der 
Massstab der gotischen Architektur". Ferner Semper a. a. O. I, S. 299 und 
Schnaase a. a. O. IV,  230: „Die gotische Architektur hatte keine leitende 
Masseinheit; sie trat in ein direktes Verhältnis zur Natur."
	        
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