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DIE
ARCHITEKTUR.
heute noch die formale Grazie ist. Aus einem ästhetischen Grunde
also gelangte man zu der Anwendung des Spitzbogens auf das Ge-
wölbe, weil nämlich dadurch die Beseitigung des intersecierenden
Pfeilers der Seitenschiffgewölbe ermöglicht") und die starre Gebunden-
heit des Grundrisses der romanischen Basilika aufgehoben wurde.
Mit der Einführung des Spitzbogens war das Gefühl des festen Insich-
beruhens, welches dem Rundbogen entspricht, aufgehoben; an seine
Stelle trat dasjenige eines unbefriedigten, weil ungesghlogsenen Auf.
wärtsdrangens. Damit war die Tendenz auf die Vertikale eröffnet,
der man sich rückhaltlos und ohne Erinnerung an das einfachste und
gar nicht zu verleugnende Bedürfnis der Schaffung einer Raurndecke
hingab. Die in der Masse arbeitenden Kräfte wurden einem statischen
Gerippe übertragen, welches die weiteste Öffnung der Wand und eine
überaus reiche Gestaltung des Gewölbes ermöglichte. So trat an die
Stelle der Wand eine Reihe von sich durch Abstufung nach oben ver-
jüngenden Strebepfeilern, an die Stelle der Halbtonne, welche, die
Seitenschiffe bedeckend, den Schub des Mittelschiffgewölbes aufgenom-
men hatte, der Strebebogenf) Das Bedürfnis, den Strebepfeiler be-
hufs Vermehrung seiner Festigkeit noch von oben zu belasten, kam
I) Neuerlich hat J. Reimers (vergl. „Zeitschrift f. bild. Kunst" jahrg. 1887)
die allgemein angenommene Erklärung, dass man den Spitzbogen auf das Gewölbe
angewendet habe, weil dieser im Gegensatz zum Rundbogen verschiedene Spann-
weiten bei gleicher Scheitelhöhe gestatte, verworfen und eine rein technische an
deren Stelle zu setzen versucht. Die ästhetische Absicht hätte auch durch gestelzte
Rundbogen oder Ellipsen technisch verwirklicht werden können; aber man habe den
Scheitel des Gewölbes mit dem Dachstuhl belasten wollen und zu diesem Zweck den
vertikal kräftigeren Spitzbogen eingeführt. Allein dazu war ja gar kein Bedürfnis
vorhanden, die romanischen Gewölbe hatten ja doch auch Dächer gehabt! So wenig
ist dies der Fall gewesen, wie dass man den Spitzbogen zur Verminderung des
Seitenschubs einführte; denn man hatte ja vorher dem grösseren Seitenschub zu be-
gegnen verstanden. Gewiss gab es zur Verwirklichung der vorhandenen künstleri-
schen Absicht noch andere Mittel, als den Spitzbogen; allein man darf nun doch
nicht fragen, warum man gerade dieses gewählt habe: warum denn gerade ein an-
deres? Zudem war es ein einfacheres Mittel, als die übrigen, und man wurde ferner
vermutlich durch die arabischen Bauten in Süditalien darauf hingewiesen, wie Reimers
selbst annimmt. Dass die Formtendenz entscheidend war, beweist die Festigkeit,
mit der man dieselbe verfolgte. Denn dass es bei der durch den Spitzbogen be-
wirkten Verminderung des Seitenschubs nicht notwendig gewesen wäre, Strebebögen
einzuführen, liegt wohl auf der Hand; man wollte Vielmehr die Mauer öffnen, um
ihr die Starrheit zu nehmen. Ein liturgisches Bedürfnis, den Grundriss der gebun-
denen romanischen Basiiika zu ändern, bestand nicht; also entschied auch insofern
die ästhetische Absicht.
2) Vergl. Reber a. a. O. S. 433.