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DIE
ARCHITEKTUR.
Formensprache schlechterdings nicht behandeln lässt, der Turm. Denn
die organische Idee des Hauses ist hier überhaupt aufgehoben: am
Turm kann (abgesehen von der formalästhetischen Wirkung). nur der
äussere und sehr äusserliche Zweck, einen hohen Aussichtspunkt zu
schaffen oder eine möglichst grosse F ernwirkung aufgehängter Lärm-
Werkzeuge zu erzielen, in Betracht kommen, aber nicht Tragen und
Lasten. Die Architektur eines hohen und engen Turmes kann daher
stets nur eine verzierende sein. Auch die Renaissance war trotz der
vollendeten Freiheit ihrer Ausdrucksweise unfähig, den Turm in ihr
Gestaltungsgebiet hereinzuziehen; wo sie es durch eine Etagengliede-
rung versucht hat, sind wenig erfreuliche Gebilde entstanden. Wenn
also, wie es geschah, der romanische Baustil den Turm zu einem
hauptsächlichen Bestandteil seiner Anlagen machte, so konnte er dies,
auch wenn er von den antiken Architekturformen ausging, nur dadurch
bewerkstelligen, dass er ganz überwiegend in der blossen Werkform
gestaltend thätig war und sich um den Ausdruck der ästhetischen
Zweckmässigkeit nicht weiter bekümmerte. Dies ist der Punkt, wo
die romanische Bauweise sich als die unmittelbare und notwendige
Vorstufe der gotischen darstellt.
Die nackte Werkform der Mauer umfasste das gesamte Äussere.
Doch blieb dieselbe nicht ganz ungegliedert. Abgesehen von den
Rundbogenfenstern und vielfach angewendeten Rundbogenblenden
die Seitenschiffe am Dom zu Worms sind damit in drei Geschossen
ganz bedeckt kommen in Betracht die Lisene n, welche als eine
rahmenartige Mauerverstärkung, als eine Verkröpfung des Mauer-
grundrisses, zu betrachten sind. Die Lisenen sind mithin etwas vom
Pilaster völlig verschiedenes. Ohne Kapitell und Basis stehen sie
ausserhalb der Bedingungen der organischen Proportion. Unter dem
Kranzgesims wenden sie einfach im rechten Winkel zur Horizontale
um. Weil aber die Mauer das Dach trägt, musste hier dennoch eine
vertikale Richtung erzeugt werden; man bewerkstelligte dies, indem
man die horizontale Mauerverstärkung im Rundbogen nach unten aus-
zackte (Rundbogenfries). Als reicher krönendes Glied wurde an be-
vorzugten Raumkörpern die Zwerggallerie unter dem Dache ein-
geschoben.
Keine dieser Formen Widerspricht direkt dem Kunstprinzip der
Antike. Die Ornamentik hatte einen ausgesprochen nordischen, ger-
manischen Charakter, allein dieselbe hat mit dem baulichen Prinzip
nichts zu thun. Die eigentlichen Kunstformen der romanischen Archi.
tektur waren den antiken nahe verwandt; es ist ganz warscheinlich,
dass sich die Baumeister dieser Verwandtschaft ebensosehr bewusst