VERHÄLTNIS
DER
GESCHICHTLICHEN
BAUSTILE
ZUR
IDEE.
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römischen Baukunst ganz gerecht zu werden. Zwar hat man einge-
sehen, dass die grossartigen baulichenLeistungen der Römer den be-
scheidenen der Griechen doch nicht schlechtweg untergeordnet werden
können. Allein die meisten glauben immer noch, die römische Bau-
kunst niCht loben zu dürfen, ohne dieses Lob an gewisse Vorbehalte
zu knüpfen; die Theorie, auf welcher diese der unbefangenen Empfin-
dung widersprechende Auffassung beruht, muss jedoch nach unserer
systematischen Untersuchung als irrig bezeichnet werden. Lübke be-
urteilt die römische Architektur folgendermassen: „Von jener idealen
Höhe, Welche die griechische Baukunst einnahm, mussten wir bei Be-
trachtung der römischen herabsteigen. Die griechische Baukunst führte
uns aus den Bedürfnissen und Schranken des alltäglichen Lebens
heraus; sie weilte in den freien, heiteren Gebieten, wo die ewigen
Götter thronten. Die römische vermochte eine ähnliche Höhe nicht
zu halten; sie verliess jene ideale Stellung, um sich gerade unter die
Bedingungen und Anforderungen des praktischen Lebens zu begeben."
Allein auch die Tempel der Götter entspringen einem Bedürfnis des
menschlichen Lebens, und der allgemeine innere Zweck, der sich gerade
bei den Griechen in hervorragendem Masse als formschaffend erwies,
war von jenem konkreten äusseren gar nicht abhängig. Lübke fahrt
fort: „Ohne jene geniale Schöpferkraft, die allein das Höchste hervor-
zubringen fähig ist, wussten die Römer in ihrem vorwiegend verstän-
digen Sinn zwar keine eigentlich neuen Formen zu schaffen; aber indem
sie die alten Formen in neuer Weise verbanden, erzeugten sie ein
neues System der Architektur, das in grossartigster Weise sich auf
jede Gattung von Gebäuden anwenden liess Ihre Baukunst macht
den Mangel organischer Notwendigkeit durch ihre Vielseitigkeit und
Grossartigkeit vergessen." Neue Kunstformen konnten aber auf dem
gegebenen Boden gar nicht mehr erzeugt werden. Wenn die Römer
den Weg gefunden haben, um das vorhandene Kunstformensystern
auf jede Gattung von Gebäuden, auf Raumkörper aller Art anzuwen-
den, so war diese Leistung wahrlich keine geringere als jene der
Griechen, und es dürfte kaum angebracht sein, ihr alle Genialität ab-
zusprechen. ja diese Leistung musste notwendig hinzukommen, um
in der Architektur das Höchste hervorzubringen, nämlich um sie zur
freien Raumkunst zu erheben. Wir haben festgestellt, dass auch bei
den Werken der Architektur lediglich die Erscheinung ästhetisch ins
Gewicht fällt; dieser Grundsatz ist verkannt, wenn man der römischen
Baukunst den Mangel organischer Notwendigkeit vorwirft. Dass ein-
zelne NVerke diesen Tadel verdienen mögen, ändert im Ganzen nichts.
Das architektonische Scheingerüst bedarf keiner weiteren Wahrheit, als