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DIE
AR CH ITEKTUR.
es hierauf in der Hauptsache nicht an. Wir haben zu fragen, wie
die vorliegenden Steingebäude in ihren Teilen und im ganzen ver-
standen werden müssen. Es ist aber falsch, zu meinen, dass die Be-
deutung der Kunstformen ohne Kenntnis ihres geschichtlichen Ursprungs
nicht ästhetisch erfasst werden könnte. Wenn dies der Fall wäre, so
wäre sie eine bloss konventionelle und damit die Mustergültigkeit der
antiken Architektur haltlos. Wenn Vitruv!) die Griechen lobt, weil
sie die Formen niemals anders als in dem durch ihre angebliche Ent-
stehung bedingten Sinn verwendeten, so bewundern wir Sie vielmehr
darum, weil sie sich aus der Nachahmung und F Ormenübertragung zur
echten architektonischen Auffassung erhoben haben. Sollten die Grie-
chen diese Auffassung thatsächlich nicht gehabt haben, so läge der
hohe Wert ihrer Schöpfungen allein darin, dass sie dieselbe wenigstens
für uns ermöglichen?)
I) Buch IV, Kap. II, 5.
2) Wenn man sich fragt, welche Änderungen und Versetzungen im System der
Kunstformen des dorischen Stils denn überhaupt denkbar sind, so erscheint die
zitierte Behauptung Vilruvs, welche seine Holzkonstruktionstheorie stützen soll, so-
gleich als eine leere. Nachdem der Stil fertig entwickelt war, war die schöpferische
Kraft verbraucht, und die gefundene Gestalt des Tempels wurde zum Gegenstand
einer hieratischen Pietät.
Die Ansicht, dass eine frühere Holzsäule mit der Kunstform der dorischen
Säule irgend etwas zu schaffen habe, scheint mir der Widerlegung nicht zu bedürfen.
Es gehört völliger Mangel an Gefühl für die technischen Eigenschaften des Mate-
rials dazu, um den Gedanken nur zu fassen. Ein aus Holz gedrehter Echinus ist
ein Unding. Dagegen lässt sich gewiss eher hören, dass zwischen den Säulen von
Beni Hassan und den griechisch-dorischen ein Zusammenhang bestehe.
Anders, dem Holz günstiger, liegt die Frage nach dem Gebälk, besonders be.
züglicll der Entstehung des Triglyphenfrieses. Manche Gelehrte folgen dem Vitruv,
so sehr auch Techniker wie Semper und Durm dessen Meinung verworfen haben.
Denn nicht jeder Grund ist stichhaltig, der gegen die Holzkonstruktion, und manches
ist plausibel, was für dieselbe angeführt worden ist. Ich stelle mir die Sache
so vor:
Ursprünglich lag aufnden Säulen ein einfacher glatter Steinbalken. (So auch
Adamy a. a. O. S. 178.) Über dessen vordere Fläche ragten die Köpfe der Dach-
sparren hervor (Mutuli, Viae), deren Stirnflächen durch eine gemeinsame Verschalung
gegen die Einflüsse der Witterung gesichert wurden. (Vergl. Durm a. a. O. "Etrns-
ker" S. 50, "Griechen" S. 13-) Diese letzteren Bestandteile sind am Geison erhalten.
Es ist gleichgültig, ob man annimmt, dass das Dach ursprünglich nach allen vier
Seiten abgefallen sei und dass die Sparrenköpfe stehen blieben, als man den Giebel
einführte um dem Gebäude eine ausgesprochene Front zu geben, oder ob man an-
nimmt, dass nachträglich die Formen des Geison um die Giebelseite herumgeführt
wurden; jedenfalls beweist dieser Umstand, dass der Grieche sich nicht scheute, aus
ästhetischen Gründen von der früheren konstruktiven Bedeutung eines Gebäudeteils