e. VERHÄLTNIS DER GESCHICHTLICHEN BAUSTILE ZUR IDEE. 227
eine gewisse Berechtigung behält. Waren sie es doch, welche den
Gedanken des organischen Bauwerks fassten und aus de!" ihnen vor-
liegenden F ormenwelt heraus in drei mehr oder weniger verschiedenen
NVeisen mit voller Konsequenz gestalteten. Dies leisteten sie ohne
gleichwohl auf eine Reihe von Einzelformen zu verzichten, welche mit
der idealen Gestalt nicht in Widerspruch standen, aber geeignet waren,
ihr den echt künstlerischen Schimmer einer naiv spielenden Phantasie
zu erhalten und sie nicht in abstrakte Kälte verfallen zu lassen; ein
Verdienst, welches nicht geringer als jenes erste angeschlagen werden
darf.
Wenn man die Schöpfungen der griechischen Baukunst, insbeson-
dere die der Blütezeit angehörende dorische und jonische Ordnung,
in dieser Weise auffasst, so wird man zugeben dürfen, dass, wie wir
gesagt haben, die Idee gewissermassen zwischen ihnen Schwebe, ohne
sie deshalb tadeln zu müssen, weil sie diese Idee jeweils nicht ohne
Rest verkörperten. Das historische, individuelle Prinzip duldete keine
grössere Annäherung an dieselbe, und eben dadurch ist die Vollendete
Einheitlichkeit, die unvergleichlich charakteristische Erscheinung der
Monumente beider Arten bedingt. „So tragen sie den Charakter einer
organischen Notwendigkeit, der sie zu Mustern erhebt, nur nicht in
dem toten Sinne, als 0b sie keiner F ort- und Umbildung fähig wären."
Was den geschichtlichen Zusammenhang betrifft, so scheint mir
die natürlichste Auffassung diejenige zu sein, welche den dorischen
Stil mehr mit der ägyptischen, den jonischen mehr mit den west-
asiatischen Bauweisen in Verbindung bringt. Dass man hieran im
Einzelnen nicht kleben darf, ist selbstverständlich; begegnet man doch
auch in Westasien mehrfach ägyptischen Kunstformen. Aber warum
sollte alles Ägyptische nur auf diesem Umweg nach Griechenland ge-
kommen sein, während doch schon Psammetich den griechischen
Kaufleuten die Häfen Agyptens geöffnet hatte?)
Die verschiedensten Hypothesen sind über den Ursprung des do-
rischen Baustils aufgestellt worden. Während die einen nach dem
Vorgang des Vitruv seine Kunstformen als Übertragungen von Ele-
menten eines früheren Holzgebäudes in Stein ansehen, behaupten die
anderen ihre ursprünglich monumentale Entstehung. Für uns kommt
z) Die Folgerungen aus den tirynthischen Funden halte ich für hypothetischer
als diese allgemeine Erwägung. Denn das Eindringen einer Bauweise vom Ausland
und die Verdrängung der früheren inländischen durch dieselbe ist nicht unnatürlich.
Hier handelte es sich um die Aufnahme einer monumentalen Bauweise bei ver-
mehrten-i Reichtum und völliger Veränderung der sozialen Verhältnisse.
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