226
DIE
ARCHITEKTUR.
Inkrustation und der nachahmenden Übertragung von Werkformen der
Holzstruktur in Stein (Zahnschnitt) treten auch in Westasien Nach-
ahmungen von Naturgebilden als architektonische Glieder auf. So wird
die Urform des jonischen Volutenkapitells wohl als aufgeschlossener
Blumenkelch, ganz ähnlich dem korinthischen Kapitell, verstanden
werden müssen. In dem unklaren Ringen nach künstlerischem Aus-
druck mögen den Asiaten zugleich noch andere Reminiszenzen, wie
das Bild der Metallspirale, vorgeschwebt sein. I) Gel-ade weil ihnen
das klare Prinzip fehlte, welches die ägyptische Baukunst in der Nach-
ahmung festhielt, wurde es ermöglicht, dass sie von dem ursprünglichen
Motiv zu Gunsten der reinen organischen Kunstform absahen und da-
durch die Erfindung des jonischen Kapitells vollzogen oder unmittelbar
vorbereiteten. Die persischen Monumente können bei ihrem ge-
ringen Alter einen wesentlichen Einfluss auf die Entwickelung der
klassischen Kunstformen nicht gehabt haben. 2)
Grieclmzland.
Karl Otfried Müller behauptete, dass die griechische Kunst ganz
allein dem griechischen Boden entsprossen sei. Diese Ansicht kann
nicht aufrecht erhalten werden, vor allem deshalb, weil sie der inneren
Wahrscheinlichkeit entbehrt; denn wie sollte ein seefahrendes Volk
von sehr empfänglichem, beweglichem Sinn die Eindrücke älterer Kul-
turen nicht verwertet haben, mit welchen es fortwährend in Berührung
kam! Zudem bei wenig ausgebildetem Gefühl für die nationale Zu-
sammengehörigkeit! Die Verwandtschaft der griechischen Monumente
mit denjenigen früherer Kulturvölker ist aber ferner zu augenfällig, um
geleugnet werden zu können, sollte sie auch im einzelnen nicht ganz
deutlich sein. Für die Architektur steht dieser historische Zusammen-
hang ausser Zweifel. Indessen haben die Griechen soviel zu dem Vor-
handenen hinzugefügt, dass die Ansicht K. O. Müllers immer noch
I) Vergl. die Abb. des Reliefs von Boghazköi Fig. 63 bei v. Sybel a. a. O. und
das bekannte Relieftempelchen von Chorsabad bei Lübke a. a. O. Fig. 41; ferner
bei Durm a. a. O. "Griechen" S. 159 die Abb. der von Cesnola in Cypern aufgefun-
denen Stelen.
2) Dadurch wird die Bedeutung des einzigen konkreten Belegs hinfällig, welchen
Semper für die technische Entstehung der Kannelur aus der Metallhohlkonstruktion
beibringen konnte, der persischen Säule. Die grosse Zahl der Kanneluren kann
übrigens hier ebensogut aus subjektivem Geschmack oder aus der Schlankheit dieser
Säulen erklärt werden. Vergl. Semper a. a. O. II, S. 399.