DIE
EINHEIT
DER
ARCHITEKTUR WERKE
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'Wechselbeziehung der beiden Hälften sich abspielt, liegt stets in der
Mitte. Würde man also den beiden Hälften eine derartige Gestalt
geben, dass ihr Schwerpunkt nach aussen läge, nicht gegen die Mitte,
oder gar, dass die Massen sich nach der Peripherie zu ansteigend ent-
wickelten, so würde dies zwar ebenfalls symmetrisch sein, jedoch einen
Widerspruch mit der Einheitstendenz der Symmetrie enthalten. Dieser
WiderspruCh Wäre hervorgerufen durch eine entstandene Richtung der
Hälften von innen nach aussen. Bei solcher Divergenz würde also
stets auch eine formelle Zweiheit, mithin die durch Symmetrie erbrachte
Einheit Wenigstens nicht rein vorliegen. Dies ist, wenngleich nicht
stark ausgeprägt, bei den Türmen des gotischen Domes der Fall,
wo der zwischen beiden erscheinende Giebel des Hauptgebäudes ganz
zurücktritt. Bei komplizierteren Gebilden wird es indessen stets
wünschenswert, die Abgeschlossenheit nach aussen durch eine Betonung
der Grenzen hervorzuheben, wozu Seitenrisalite und turmartige Anlagen
dienlich sind.
Die zweite Art, auf welche die Einheit formell ausgedrückt werden
kann, ist die Massensubordination. Sie ist ein allgemeinerer,
höherer aber auch undeutlicherer und desshalb weniger monumentaler
Ausdruck der Einheit, als die Symmetrie. Bei Gelegenheit der Be-
sprechung der formellen Schönheit wurde das Prinzip dieser Erschei-
nung und ihre Bedeutung für die sogenannte malerische Behandlungs-
weise der Architektur bereits dargelegt?)
Von Einheit kann natürlich keine Rede mehr sein, wenn der
Beschauer nicht im Stande ist, das Kunstwerk als Ganzes zusammen-
zufassen, es zu überschauen. Dieses Gesetz aller Kunst, die Forderung
eines bestimmten Masses der Ausdehnung, hat Aristoteles bezüglich
des Drama's ausgesprochen?) Dasselbe ist in der Architektur von
besonders hoher Bedeutung. Hier kann eine Überschreitung sehr leicht
vorkommen; es entscheidet darüber ein optisches Verhältnis: der Um-
fang des Sehwinkels mit Berücksichtigung des Standortes, Die Ent-
fernung des letzteren ist absolut begrenzt durch das Verhältnis der
organischen Glieder zum Ganzen. Wenn beispielsweise das Schloss
Herrenchiemsee in beliebiger Entfernung betrachtet werden kann, so
liesse es sich bei einer beabsichtigten Breitenausdehnung von ca. 400
Meter doch niemals so betrachten, wie zur deutlichen Erfassung seines
organischen Zusammenhanges notwendig wäre.
I) Vergl.
2) Vergl.
oben S. 48 H".
Poetik VII, 4.