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DIE
ARCHITEKTUR.
hören scheinen; es gebe kirchliche und weltliche Baustile." Dass
solche Associationen wirksam werden, ist keine Frage; aber es kommt
doch mehr darauf an, wie man einen Baustil im einzelnen Falle hand-
habt. Man kann einerseits gotische Kirchen und gotische Markthallen
bauen, andererseits haben sämtliche Stile der Gottesverehrung gedient.
jedoch werden wir nicht sehr geneigt sein, den Rococostil zum letz-
teren Zweck zu verwenden, weil der Charakter der Leichtfertigkeit
und Sinnenlustigkeit ihm nicht bloss durch historische Association,
sondern vielmehr durch die F ormbehandlung selbst eigentümlich ist.
Bei den niederen Artefakten muss ein verständlicher konkreter
Zweck mit Klarheit ausgesprochen sein. Die ästhetische Wahrheit
ihrer Formen besteht in der vollständigen Übereinstimmung aller Teile
mit dem vorausgesetzten Zweck des Ganzen. Das Artefakt muss als
zu einem bestimmten Zweck brauchbar erscheinen und kein Teil darf
demselben widersprechen oder die Brauchbarkeit aufheben. Das
Luxusgerät, welches thatsächlich nicht zum Gebrauche bestimmt ist,
steht keineswegs ausserhalb dieses Gesetzes; nur gestatten wir der
höheren künstlerischen Leistung auf dem Gebiet der Verzierung mit
freien Kunstwerken allenfalls eine Ausschreitung. Falke führt als Bei-
spiele hierfür den Tafelaufsatz des Wenzeljamnitzer in der Sammlung
des 1- Freiherrn M. K. v. Rothschild und die Silberschale des Christoph
jamnitzer mit dem Triumph Amor's in der Wiener Schatzkammer auf I),
jedoch, mindestens bezüglich des ersteren Werkes, nicht mit völliger
Berechtigung; man könnte beide Stücke immerhin zu ihrem Zwecke
benützen. In den kunsthandwerklichen Entwürfen Hans Holbeins, des
grössten Künstlers aller Zeiten auf diesem Gebiete, ist bei phantasie-
reichster Ausstattung die Brauchbarkeit niemals fraglich?)
Wir haben nunmehr gesehen, wie bei den Artefakten doch eine
Forderung der Wahrheit besteht und also ein Prinzip des Realismus
in Frage kommt. Allein dasselbe hat einen anderen Inhalt als bei
den nachahmenden Kunstwerken. Dort handelt es sich um die Wahr-
heit einer Idee, welche die Nachahmung von Erscheinungen der Natur
in sich schliesst; hier um die Wahrheit der Erscheinung eines Gegen-
standes im Verhältnis zu seinem rein begrifflich gegebenen Wesen.
Darauf beruht eine Verschiedenheit der Naturnachahmungen und Arte-
fakte im Verhältnis der konkreten Ideen zur platonischen. Im Bereich
der nachahmenden Kunst werden die konkreten Ideen in ihrer Be-
I) Vergl.
zahlreichen Nachbildungen
München seit 1879.
2) Siehe die
Renaissance" etc.
in
Hirths
"Formenschatz
der