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ARCHITEKTUR.
Wendung der Wand als tragend (Palazzo Pandolfini in Florenz, von
Rafael), wie bei Auflösung derselben durch Pilastersysteme.
Was nunmehr über die Wahrheit der zwecklichen Gestalt und
über die Wahrheit in der Verwendung des Materiales festgestellt
wurde, beweist, dass auch von den Werken der Architektur der Satz
gilt, welchen wir bei der Untersuchung der nachahmenden Künste
durchweg bestätigt gefunden haben: dass nämlich die natürliche Mög-
lichkeit der Erscheinung im Kunstwerk eine allgemeine Forderung der
Phantasie sei. Es kommt in der Kunst nur an auf die Erscheinung;
die letztere aber muss überall die für das Erscheinende geltenden
Naturgesetze befolgen!)
Bezüglich des äusseren Zweckes bemisst sich die Wahrheit der
Artefakte bloss_aus dessen Vorstellung, also nicht aus der zufälligen
wirklichen Verwendung. Wenn aber einmal ein konkreter äusserer
Zweck vorausgesetzt wird, so ist das ästhetische Urteil im ausdrück-
lichen Hinblick auf denselben eröffnet, und er ist mithin ästhetisch
massgebend. WVelcher Unterschied hier jedoch herrscht zwischen den
hohen und niederen Artefakten, haben wir oben dargelegt: der suppo-
nierte Zweck ist bei jenen weit allgemeiner und unbestimmter, als bei
diesen. Infolgedessen bleibt dort auch gegenüber der Forderung einer
wahrhaftigen Erscheinung des vorausgesetzten Ganzen ein verhältnis-
mässig grosser Spielraum für das künstlerische Belieben: die Anord-
nung von Mittel- und Seitennisaliten ist bei den verschiedensten Zwecken
der Gebäude gewählt worden, ohne dass sich hiergegen ein begründeter
Einwand erheben liesse. Nur sehr konkrete Zwecke bedingen eine
strengere Gebundenheit: Theater, Festhallen u. dergl?)
I) Vergl. oben S. 104 ff.
, 2) Die Stadt Mannheim hat im Jahre 1885 die Aufgabe gestellt, einen WVasser-
turm als Monnmentalbau zu gestalten, und unter einigen achtzig Versuchen eine
Lösung erhalten. Vergl. das „Centralblatt der Bauverwaltung" von 1885, Nr. 52. Es
bedurfte hier der künstlerischen Gestaltung eines Organismus, in welchem ein grosses
Behältnis auf eine beträchtliche Höhe erhoben ist, bei tadelloser formeller Schönheit;
mit der blossen Verzierung eines technischen Baues war natürlich nichts gethan.
Die erfolglosen Versuche zerfielen in solche, die den äusseren Zweck völlig beiseite
stellten, und in solche, welche sich mit Verzierung der Werkform begnügten. Hier
war durchweg ein formell unschönes Gebilde entstanden. Die zur Ausführung ge-
langte Lösung war ursprünglich nicht vereinigt mit dem ingenieurwissenschaftlich
besten System des Wasserbeckens. Ästhetisch kam selbstverständlich hierauf gar
nichts an. Aber es entstand aus diesem und anderen Gründen die Frage, ob es
überhaupt angebracht sei, einen Nutzbau von so überwiegend praktischem Interesse
künstlerisch zu gestalten. Vom Standpunkt der Kunst aus muss dieselbe bejaht
werden, und die Schwierigkeit der Lösung erhöht nur das Interesse. Ob das be-