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DIE
ARCHITEKTUR.
so verlangt die vertikale Entwickelung eine hervorragende Beto-
nung, welche nur durch Verkröpfung des Gebälkes bewirkt werden
kann. Eine Belastung des obersten Gebälkvorsprunges mit dekorativen
Körpern ist auch hier erfordertf)
Freien Säulenstellungen vor der Wand treten an dieser häufig
korrespondierende Pilasterstellungen gegenüber. Dies kann aussen und
in Innenräumen stattfinden. Die römische Baukunst hat anfangs die Weise
befolgt, Gewölbe nicht unmittelbar auf das Säulenkapitell zu stützen,
sondern noch ein gewissermassen allseitig verkröpftes Gebälkstück
einzuschieben und erst über diesem mit der Archivolte zu beginnen.
Dies ist unter dem Gesichtspunkt der organischen Schönheit zu ver-
werfen, da das Gebälkstück, auch wenn man es als Kämpfer auffasst,
den Sinn der Formensprache vermissen lässt?)
Kämpferaufsätze über dem Kapitell mit horizontalem Charakter
(z. B. symmetrische Horizontalkonsolen mit aufsteigendem Wellenprofil)
sind, als Verstärkung des Gebälkes für grosse Spannweiten zulässig.
Dagegen ist es nicht zu billigen, wenn über der tragenden Säule noch
einmal eine vertikal gerichtete Konsole angeordnet wird oder gar, wie
auch schon geschehen ist, eine Herme, denn dies zerstört den Sinn
des Kapitells völlig: hätte man doch die Säule umsoviel erhöht!
Durchaus zulässig sind horizontale Biegungen des Gebälkes, welche,
wenn man sich fortwährend an den Holzbalken erinnern müsste, ebenso
anfechtbar wären, wie die Verkröpfung. Jedoch darf zwischen zwei
Säulen nur eine ungebrochene Kurve liegen (Rundbauten: Lysikrates-
denkmal).
Ganz "zu verwerfen ist eine Zerschneidung des Gebälkes, wie sie
geschieht, wenn man etwa aus praktischen Rücksichten Architrav und
F ries über der Säule vortreten lässt, aber nur das Gesims durchführt;
das Durchbrechen von F ensteröffnungen in Höhe des zerstückelten F rieses
und Architrav's vollendet gewöhnlich den Unsinn. Hier ist keine
Lösung, sondern ein Eingeständnis der Notdürftigkeit der Mittel. Aber
nicht das Bedürfnis, sondern die ästhetische Zweckmässigkeit ent-
1) Lübke sagt über die Verkröpfung ("Geschichte der Architektur," Leipzig
1875, S. 188) folgendes: „YVas aber unserem Auge am lebhaftesteil das Lose, Un-
organische dieser Verbindung des Säulen- und Gewölbebaues bemerklich macht, ist
die Art, wie das Gebälk über den Säulen vortritt und neben ihnen im rechten Winkel
zurückspringt, sodass dadurch Würfelartige Mauerecken entstehen, die keinerlei kon-
struktiven Zweck haben und daher (P) Verkröpfungen genannt werden. Sie bringen
das Müssige der ganzen Säulenordnung erst klar zu Tage" etc. Adamy giebt
(„Römer" S. 147) eine ähnliche Erklärung ab.
2) Merkwürdigerweise gehört die bessere Form der Verfallperiode an; die
Schlechtere ist die ursprüngliche. Vergl. Durrn a. a. O. "Römer", S. 264.