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DIE
ARCHITEKTUR.
schwebender Teppich. Die Fassadenmalerei der Renaissance war ein
Notbehelf, um architektonisch unkünstlerischen Gebäuden zu einem
künstlerischen Wert zu verhelfen. Freilich sind aus den Schranken der
Aufgabe hochbedeutende Leistungen hervorgegangen (Holbeins Haus
zum Tanz).
Die Polychromie hat bei den Werken der Architektur einen
völlig anderen Sinn, als bei den nachahmenden Kunstwerken der
Plastik und Skulptur. Dort bezweckt sie die Vollständigkeit der
Naturnachahmung, hier ist sie wesentlich verzierend und ohne derartige
Beziehung. Eine nichtfarbige Architektur und eine farbige Skulptur
könnten daher sehr wohl in derselben Zeit bestehen. Indessen hat
man bis jetzt immer nur beide entweder zugleich farbig oder zugleich
unfarbig behandelt, jenachdem der Zeitgeschmack Farblosigkeit oder
Farbigkeit rein äusserlich bevorzugte (Antike-Barocco). Im allge-
meinen ist jede dieser verschiedenen Behandlungsweisen zulässig.
Die XVahrheit der Architektur bezüglich der inneren Zweck-
mässigkeit äussert sich darin, dass die sichtbare funktionelle Glie-
derung als in sich möglich und notwendig erscheint, während es völlig
gleichgültig ist, ob die Glieder thatsächlich ebenso fun-
gieren, oder nicht.
Damit erledigt sich die Frage des Pilasters. Wenn man sich
über die Natur der ästhetischen Zweckmässigkeit klar geworden ist,
so wird es beinahe unbegreiflich, wie die Pilasterarchitektur von ver-
schiedenen Seiten als unwahr oder bloss dekorativ verworfen oder ge-
tadelt werden konnte. Aber es ist nicht immer der Fall, dass sie
tadellos angewendet wird; denn der Künstler wird hier nicht durch
wirkliche Funktionen zu struktiver Richtigkeit gezwungen. Dies
äussert sich namentlich darin, dass die organischen Proportionen
nicht festgehalten und die Säulenintervalle ganz nach praktischem
Gutfinden weiter oder enger genommen werden, als durch das
Gebälk bedingt ist. Im Pilaster ist die tragende Kraft aus
der Mauer herausgelegt, und es kann daher dieselbe
Mauer nicht noch einmal als tragend verwendet wer-
welche zuerst nur inkrustiert waren. Nun hat allerdings Gurlitt Recht damit, dass
die Kunstformen in diesem Falle nur noch deshalb Geltung hätten, weil sie dem
Beschauer eben geläufig geworden sind, d. h. dass sie lediglich eine konventionelle
Gültigkeit hätten. Aber es ist ganz ungerechtfertigt, in diesem inneren Widerspruch
mit der im Programm ausgesprochenen Lehre das ästhetische Verdienst Sempers zu
erblicken. In die künstlerische Praxis sind zu deren Segen eben nur jene beiden
Postulate der Zweckmässigkeit und Materialmässigkeit in ihrem allgemeinen Wesen
übergegangen.