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ARCHITEKTUR.
selbe ist, dass sie die organische Gestalt nicht unkenntlich machen
darf. Übrigens ist sie durchaus zuverlässig; ja sie vermehrt die Deut-
lichkeit der organischen Gestalt, wenn sie systematisch korrekt ange-
wendet ist. Die nichtpolychrome Architektur wird statt dessen eine
gröbere Profilierung, eine stärkere Schattenbildung benötigen. Dem
Wesen der Architektur als nichtnachahmender Kunst dürfte es jedoch
immerhin angemessener sein, das Material offen zu zeigen; deshalb ist
die monumentale Polychromie, die Verwendung farbigen Gesteines,
der Bemalung umsomehr vorzuziehen, je ernsthafter der architektonische
Gegenstand aufgefasst werden muss. Wo die dem Material entstam-
mende Werkforrn in den Vordergrund tritt, bei den niedrigeren Arte-
fakten scheint mir die Stoffverhüllung wenig angebracht zu sein. Von
den Vertretern der Echtheit ist an Stelle der Imitation, z. B. an Stelle
eines Holzanstriches, die willkürliche Bemalung anempfohlen worden.
Es ist aber beides zulässig und beides nicht sehr empfehlenswert.
Dagegen ist es die eigentliche Bestimmung der aus einer or-
ganischen Gliederung hervorgegangenen Flächen, der
Malerei freien Spielraum zu gewährenf) Bedenklich ist die
I) Es ist hier der Ort, um ein Dilemma zu erörtern, welches das ganze WVerk
Sempers beherrscht und die eigentliche Ursache der Schwerverständlichkeit des-
selben ist. Semper sagt (I, S. XV), den "Materialien" entgegentretend, folgendes:
„Sie trifft im allgemeinen der Vorwurf, die Idee zu sehr an den Stoff geschmiedet
zu haben durch die Annahme des unrichtigen Grundsatzes, es sei die architekto-
nische Formenwelt ausschliesslich aus stofflichen konstruktiven Bedingun-
gen hervorgegangen und liesse sich nur aus diesen weiter entwickeln; da doch
vielmehr der Stoff der Idee dienstbar,_ und keineswegs für das sinnliche
Hervortreten der letzteren in der Erscheinungswelt alleinig massgebend ist." Uan
vergleiche nun damit beispielsweise folgende Stelle (I, S. 414): „Die Bekleidung ist
in der späteren schon ausgebildeten chaldäo-assyrischen Baukunst das gemeinsam
konstruktive und ornamentale Prinzip; das einzig Feste am Hause ist dessen Kruste,
und rein technische Prozeduren, die mit dem Bekleiden und Inkrustieren verbunden
sind, wie das Weben, Säumen, Nähen, Sticken, Einlassen, das Niethen, Falzen, Löthen,
Schiffen, Rlmleln der Krusten, in Gemeinschaft mit einigen statischen Momenten
generieren das architektonische Kunstschema." Es ist ein otTenbarer Widerspruch
1nit dem erst zitierten Grundsatz, wenn Semper überall in dem Bekleidungsprinzip
die Kraft erblickt, welche die Kunstform schafft. Die Erscheinung der Zweck-
mässigkeit und Materialmässigkeit ist mit einem Prinzip der Verhüllung schlechtweg
unvereinbar. Nicht im Verhüllen, sondern im Enthüllen der zwecklichen Funktion
liegt die Aufgabe der Architektur als Kunst, und es ist ganz imdenkbar, wie aus
einer der menschlichen Natur ursprünglich innewohnenden Tendenz zu Bekleiden
und zu Maskieren (Sempcr a- a- O. I, S. 216 Anm.) dieser Erfolg hervorgehen sollte.
Mögen die I{un5tf0rmen auch aus der tubulären Konstruktion entstanden sein: in"
einem Moment muss der zweckliche Gedanke auftauchen, der jene nur für seine
Sprache benützt, weil er sie vorlindet, und von welchem aus die Kunstformen nun