ARCHITEKTUR.
Begriffe und Vorstellungen, welche jede Existenzberechtigung verlieren,
wenn sie dem Bedürfnis, welches sie erfüllen sollen, nicht dienen können.
Daher schliesst sich auch die ästhetische Vorstellung so eng an die
Wirklichkeit an, dass die geringste Erscheinung der Unwirklichkeit oder
praktischen Unbrauchbarkeit eines künstlerisch gestalteten Artefaktes
das ästhetische Vergnügen völlig zerstört. Mit anderen Worten: dess-
halb, weil es auch in der Architektur ästhetisch nur auf die Erscheinung
ankommt, dürfen ihre Werke sich doch nirgends als Nachahmungen
darstellen. Hierin bestätigt sich die Richtigkeit unserer Einteilung der
Künste. Denn während wir an den Werken der nachahmenden Künste
die Unwirklichkeit in der Weise voraussetzen, dass der ästhetische
Genuss durch negative Momente jeder Art nicht zerstört wird, setzen
wir bei den architektonischen Kunstwerken die NVirklichkeit und Brauch-
barkeit voraus. Die Zerstörung des ästhetischen Genusses durch das
Erkennen einer Täuschung ist in beiden Fällen nicht ganz gleicher
Art: sie erfolgt bei nachahmenden Kunstwerken, weil man uns täuschen
wollte, bei den nicht nachahmenden, weil sie nicht brauchbar sind;
dort wäre man mit der ehrlichen Anzeige der Unwirklichkeit zufrieden
gewesen, hier nie. Im Resultat ist die Wirkung des Erkennens der-
selben natürlich gleichß)
Man muss unterscheiden zwischen der Wahrheit des Materiales
und der Wahrheit des Zweckes, und in letzterer wieder zwischen
der Wahrheit des äusseren und des inneren Zweckes.
Dass das Material der Architektur überall ein echtes sei, ist nach
dem eben entwickelten Grundsatz keineswegs notwendig. Das er-
scheinende Material dagegen, einerlei, ob die Erscheinung durch
Imitation bewirkt ist, oder auf Echtheit beruht, ist massgebend für
die Form, weil die Werke der Architektur in sich möglich sein und
als existenzfähig erscheinen müssen. Die Imitation muss in der Form
die dem nachgeahmten Material entsprechende Stoff behandlung zeigen.
Nun kommen zwei Fälle in Betracht: entweder der nachgeahmte
Werkstoff hat wesentlich gleiche Eigenschaften, wie der verwendete,
z. B. zwei Holzarten, zwei Metalle, zwei Thonerden; dann entsteht
I) Adolf Göller behandelt in seinen Vorträgen „Zur Ästhetik der Architektur"
die "Wahrheit derselben mit richtigem Geschmack; den entscheidenden Grundsatz
aber entwickelt er nicht und besitzt er nicht. Daher vermag er für seine im Ganzen
zutreffenden Urteile über das Verhältnis zwischen praktisChem und ästhetischem
äusseren Zweck keine Gründe beizubringem Göllers künstlerische Empfindung ist
stärker, als seine ästhetische Theorie; denn er fällt doch wohl aus der Rolle des
Formalismus, wenn er neben der Formschönheit ein Gesetz der Wahrheit der Archi-
tektur nur irgendwie anerkennt.