DAS
ORGANISCH
SCHÖNE
VERHÄLTNIS
ZUM
MATERIAL.
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der Ausdruck der Stützenverbindung durch den radialen Fugen-
schnitt völlig zerstört ist. Dass wir nun gerade den Seitenschub
ästhetisch empfinden, bezweifle ich; aber wir empfinden statt dessen
die Unsicherheit einer nicht aus einem Stücke bestehenden Verbindung:
der Anblick wird erst erträglich, wenn eine den Bogen umgebende
Masse das zerschnittene Ganze durch äusseren Druck zusammenhält.
Unter dieser Voraussetzung ist aber auch eine neue Idee gegeben:
das ästhetische Interesse ruht nicht mehr auf der periphe-
rischen Thätigkeit des Bogens, sondern auf seiner centri-
petalen, und wir empfinden den Streit eines gewaltigen Druckes mit
der überlegenen NViderstandskraft des Steines. „Die Benutzung des
Schnittes der Bogenkeile als Dekoration und Ersatz für die Archi-
voltenbekleidung ist, sowie überhaupt der F ugenschnitt, ein Charakter-
zug des ausgebildeten Stiles und wurde in tuskanisch-römischer Zeit
nicht in der Wohnungsbaukunst, sondern nur für die Unterbaue und
für grossartige Nutzbauten wie Mauern, Brücken, Wasserleitung,
Emissäre u. dgl. m. verwandt, an denen dieser männliche Schmuck
vieles zu der mächtigen, fast schauerlichen, Wirkung beiträgt, die jene
Werke, welche den Jahrtausenden trotzten, hervorbringen." I) "Aus-
gebildeter Stil" kann hier nur heissen „ein sich der eigentümlichen
Bedeutung des Rustikabogens bewusst gewordener Stil. Diese Form
darf also Anwendung finden bei Durchbrechung ausgedehnter Mauer-
flachen, als Gewölbstirn von Tunnels u. dgl. Man kann nun aber
weiterhin noch mit Bewusstsein auf alle und jede Kunstform verzichten,
wo die ideellen Voraussetzungen dazu gegeben sind. Dies ist nament-
lich dann der Fall, wenn ein Unterbau als blosse Substruktion des
eigentlichen idealen Hauses erscheinen soll. Auch kann ein äusserer
Zweck dazu führen, dass man durch ein ganzes Gebäude hin, auf
eigentliche Kunstformen verzichtet, und die Werkform als solche be-
tont, indem man verschiedene Stockwerke höchstens durch Abwechs-
lung von Rustika und glattem Mauerwerk verschieden charakterisiert.
Dies ist dann gerechtfertigt, wenn NVehrhaftigkeit, trotzige Kraft und
Missachtung schönen Daseins ausgesprochen werden sollen, wie bei
Kasernen und F estungsbauten. Damit halte ich den scheinbaren
Widerspruch, auf welchen wir bei Gelegenheit des Bogens mit unserer
Auffassung der Kunstform geraten sind, für gehoben.
Bclüglißh der lIVCFkfOYm übt das Material eine unbe-
Semper a.
455-
Durm
"Etrusker",
S. 261, Kap. 11