DAS
ORGANISCH
SCHÖNE
VERHÄLTNIS
ZUM
MATERIAL.
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dieselben ergreifen aber nicht das Wesen derselben. Anderenfalls
kann von Kunstformen überhaupt nicht mehr gesprochen werden.
Dagegen bedingt das Material sehr verschiedene Werk-
formen, welche neben der Kunstform auftreten und dieselbe ganz
oder teilweise verdrängen können!)
Das Verhältnis des Materials zu der zwecklichen Form wird be-
sonders wichtig beim Gebäude, als dem höchststehenden Artefakt.
Die künstlerische Gliederung des Hauses muss eine dreifache sein,
entsprechend den Funktionen des Tragens, Lastens und Raum-
schliessens. Ein Material, welches von gleicher Zweckmässigkeit für
jede derselben wäre, existiert nicht, wenn man nämlich eine wahre
Sonderung von Stütze und Raumabschluss vollzieht. In diesem Fall
dürfte als ideales Material für die Stützen der Stein zu betrachten sein,
vermöge seiner grossen rückwirkenden Festigkeit. Bei seiner geringen
relativen Festigkeit entspricht er dagegen den Anforderungen der
horizontalen Überbrückung von Raumöffnungen keineswegs in gleichem
Masse, wie der Holzbalken; das Holz ist also wohl das ideale Material
für den Zweck der lastenden Glieder. Endlich bleibt für den Raum-
abschluss ein Material zu suchen, welches eine möglichst scharfe Son-
derung dieser Funktion von derjenigen des Tragens gestattet, welches
dem Begriff der ersteren möglichst rein entspricht und übrigens die
in Säule und Gebälk verbundenen Kräfte möglichst wenig in Anspruch
nimmt. Diese Eigenschaften vereinigt in vollkommenster Weise allein
der gewebte Teppich.
Zu vollständiger Einheitlichkeit des Materials gelangte die Archi-
tektur selten. Nur im Haurän findet sich ein absoluter Steinbau?)
Regelmässig behilft sie sich mit einer Kombination verschiedener Stoffe.
Als hohe Kunst hat sie aber naturgemäss grosses Interesse an mög-
lichster Dauerhaftigkeit ihrer Erzeugnisse, und hierfür ist nur der Stein
I) Vergl- Durm, "Etrusker" S. 109, Abs. 2: "Nicht auf die Kunstform hatte
das Material 1331151195, Sondern nur auf die Art der technischen Herstellung. Das
korinthische Kapitell bleibt dasselbe, ob es in Terrakotta, Marmor, Sandstein oder
Metall ausgeführt wurde" etc. Ferner Falke, "Ästhetik des Kunstgewerbes", S. 73':
„Also die Zweckmässigkeit ist es, welche die Grundgestalt eines Gegenstandes schafft,
unabhängig von dem Material, aus welchem esgebildet wird. Denn ob das Fass,
der Krug, der Becher aus Glas, Holz, Stein oder Metall besteht, die Grundgestalt
wird immer dieselbe sein." Die völlige Unabhängigkeit der Kunstform vom Werk-
stoff hat Bötticher in seiner "Tektonik der Hellenen" (S. 44) behß-uPtCt, und 311611
Semper erklärt (a. a. O. S. XV), dass der Stoff der Idee dienstbar sei, nicht uni-
gekehrt, während allerdings jener die Form modißziere.
2) Vergl. Durm im "Handbuch der Architektur", "Etrusker", S. 101, 109, Abs. 3.
Alt, System der Künste. I3