192
DIE
ARCHITEKTUR.
des Geschränkes bei Schreinen und Schränken, und deren blosse Ver-
zierung der geringeren Bedeutung der in Rede stehenden Artefakte
durchaus angemessen. Diese eigentlich gotische Weise, welche sowohl
die frühe italienischel) als die frühe ClCutSChe Renaissance 2) geübt hat,
ist sehr empfehlenswert, weil sie die mobile Ausstattung der Innen-
räume in klaren Gegensatz zur festen Architektur bringt, während sie
sich mit der idealen Gestalt der letzteren durchaus verträgt. Die ent-
stehenden Flächen dürfen mit beliebigen VCrZiCrungen bedeckt werden
nach den für die Ornamentik geltenden Grundsätzen.
DAS
ORGANISCH SCHÖNE IM
MATERIAL.
VERHÄLTNIS
ZUM
Die Idee muss verkörpert werden in einer Materie. Vermöge
einer Prozedur wird der Werkstoff dem Zweck und dessen ästhetischer
Erscheinung angepasst. Die Stoffe, welche zur Herstellung der Arte-
fakte zur Verfügung stehen, sind aber in ihren technischen Eigen-
schaften sehr verschieden, und dieser Verschiedenheit muss in der
Prozedur Rechnung getragen werden, weil ja das Erzeugnis existenz-
fähig und dauerhaft sein soll. Daher erhebt sich die Frage, ob nicht
durch ein anderes Material eine andere Form der funktionierenden
Glieder oder überhaupt eine andere Form bedingt werde, als sie der
Zweck fordert.
Der zweckliche Gedanke ist völlig unabhängig vom Material; die
organischen Formen müssen, wie schon oben gesagt, in allen Fällen
gleich sein, WO dieselbe Thätigkeit versinnlicht werden soll. Ganz
ebenso, wie thatsachlich zur Herstellung der Artefakte stets diejenigen
Stoffe gewählt werden, welche möglichst vollkommen und naturgemäss
dazu geeignet sind, z. B. zum Weben Hanf und Wolle, aber nicht
Glas oder Metall, so ist auch in der Idee vollkommene Zweckmässig-
keit des Materials schon vorausgesetzt und werden keinerlei Ver-
schiedenheiten desselben berücksichtigt. Daraus ergiebt sich, dass
das Material der zwecklichen Form rein negativ gegen-
übersteht. Es kommen wohl Modifikationen der Kunstformen vor;
I) Vergl. die Abb. bei Semper a. a. O. II, S. 335.
2) Abb. bei Lübke, Gesch. d. deutschen Renaissance,
Stuttg.
Fig"
1882,