DIE
ORGANISCHE
SCHÖNHEIT
DER
ARCHYFEKTURWERKE.
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Über dem Polster liegt noch eine Platte von geringer Dicke mit Echi-
nusproiil, welche ich nicht als den Abakus, sondern als einen aus dem
formellen Bedürfnis einer Cäsur zwischen Polster und Gebälk hervor-
gegangenen Abakusbestandteil auffasseß)
Aus gleichfalls uralten Formen haben die Griechen noch eine
weitere Gattung von Kapitellen entwickelt, welche als korinthische
bezeichnet werden. Dieselben genügen dem Bedürfnis, der Säule ein
sich ausbreitendes Kopfglied zu geben; ihre glockenförmige Gestalt,
ihr der steigenden Welle verwandtes Profil ist zweifellos zweckmässig.
Sie erfüllen jedoch die Idee nicht in der Vollkommenheit, wie die
Kapitelle der dorischen Art; statt dessen gewähren sie einen dekorativ
reicheren Anblick. Während sie immerhin als selbständige Glieder
ausgebildet sind, gehören sie doch entschieden mehr in das Gebiet der
bildnerischen Zieraten, als in dasjenige der Kunstforrnen. Das nach-
ahmende Wesen des ägyptischen Blumenkelchkapitells, welches dem
korinthischen Kapitell zugrunde liegt, haben die Griechen abgestreift
und dasselbe dadurch zu einem echt architektonischen Gebilde erhoben,
welches den Römern und den Künstlern der Renaissance die Möglich-
keit reichster und freiester dekorativer Behandlung gewährte.
Durch das Überwiegen der Höhenausdehnung am Säulenschaft
und durch die beiden ihn begrenzenden Linien wird das Emporstreben
der Säule schon versinnlicht. Man kann deshalb, wie es aus gewissen
ästhetischen Gesichtspunkten bei der Verwendung von farbigem Mar-
mor zu geschehen pflegt, dabei stehen bleiben. Die vollendete Kunst-
form bildet jedoch erst die Kannelierung (Rhabdosis) des Säulenschaftes.
Die Erklärung, welche ihr K. Bötticher gegeben hat, ist folgende: „Man
sieht leicht, wie schon die Formation einer Röhre zu der Weise ihres
statischen Verhaltens gerade das Wesentliche beiträgt. Schon die
empirische Wahrnehmung lehrt, wie alle vollen Rohrarten, elastisch
und beugungsfahig, die hohlgewachsenen dagegen unbeugbar sind, so-
bald ihre" Wand von gleich dichter Beschaffenheit wie bei jenen ist.
Wenn sich bei jenen Doldenstämmen diese Eigenschaft in der Rhab-
dosis so kennbar machte, dass man ihr Schema infolge dessen mit
Recht zur Kunstform des Säulenstammes verwendete, dann lässt sich
wohl sagen, dass es den scharf beobachtenden Hellenen ebenso un-
möglich gewesen sei, eine andere treffendere Kunstform für den gleichen
1) Wie Hauser (a. a. O. S. 61) den Volutentorus als ein präludierendes Analo-
gon des dreiteiligen Architravs auffassen mag, ist mir unvergtändlich, Die Ge.
schichte des jonischen Kapitells beschäftigt uns hier nicht. Vergl. darüber Durm
a. a. O. S. 158 u.