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DIE
ARCHITEKTUR.
Welches sind nun die für uns gültigen Kunstformen? Man muss
ausgehen von der Idee der Artefakte, in welcher die innere Zweck-
thätigkeit vorgestellt wird. Dieselbe erfährt ihre weiteste Ausbildung
in dem Gegenstand der Architektur im engeren Sinn, im Gebäude.
Gleichwohl ist sie eine sehr einfache, da sie sich im Ganzen in den
Funktionen des Tragens, Lastens und eventuell Raumschliessens er-
schöpft, sodass die Zahl der Kunstformen keine grosse sein kann.
Die beiden ersteren Funktionen werden erfüllt von Säulen und
giiltigkeit der antiken Formensprache, während letztere in der Theorie Böttichers
ihre stärkste Begründung findet. Dies hat Semper offenbar nicht bemerkt, und so
geht denn aus einer Reihe von Stellen seines NVerkes, sogar gerade aus der Begrün-
dung sciner Erklärung, dass die Böttichefsche Untersuchung verworfen werden müsse,
hervor, dass er dieselbe, im Widerspruch mit seinen Worten, selbst als notwendig
empfand. A. a. O. (I, S. 475, Anm.) sagt er: "Nicht jedes konsequent durchgeführte
System einer Formgebilng ist deshalb ein Organismus; dieser bedingt das Hervor-
treten gewisser formaler Erscheinungen, die sich als Lebensäusserungen kund-
geben. Der gotische Pfeiler mit seinen Gewölbribben, wenn auch noch so konse-
quent durchgeführt, und obschon mit lockerem Blattschmucke an seinem Knaufe
ungenügend und äusserlich als Organismus symbolisiert, ist und bleibt immer nur
eine Struktur." Die griechische Säule aber mit ihrer unmittelbar deutlichen zweck-
lichen Gliederung ist ihm "organisch." Ich glaube, Semper hatte Bötticher missver-
standen, veranlasst durch dessen Ausdehnung des Begriffs der Kunstform auf die
symbolischen Ornamente. Dadurch schien ihm die antike Formensprache zu äusser-
lich aufgefasst und als nicht genügend gesichert, ein Übelstand, dem er durch seine
technische Begründung der Formen abzuhelfen hoffte. AdolfGöller findet (vergl.
dessen "Entstehung der architektonischen Stilformen", Stuttg. 1888, S. 2), dass die
Lehre Böttichers "nicht minder berechtigt" sei, „als jede andere persönliche Äusse-
rung eines ästhetischen Wohlgefallens." Indessen wäre sie dann als Lehre eben
nicht berechtigt. Göller gebraucht statt der Bezeichnung "Kunstform" das Wort
"Schmuckforni" und verrät dadurch, dass ihm das Wesen der Sache nicht klar ge-
worden ist, wie er denn die organische Schönheit der Architekturwerke überhaupt
völlig beiseite setzt. Die "Schmuckforin" ist ihm neben der Werkform "ästhetischer
Überfluss"; er führt als Beispiel (S. 5 a. a. O.) die Verzierungen eines schmiede-
eisernen Gitters an, welche doch niemals Kunstformen sind. Dadurch "ovird kein
grosses Vertrauen auf seine Behandlung der Stilgeschichte als einer Reihe von Ver-
änderungen eines blossen Formbedürfnisses der Menschen erweckt. Friedrich
Visch er (vergl. dessen Ästhetik S 557) hat Kunstform und Ornament ebenfalls zu-
sammengeworfen. Er spricht sich dahin aus, dass man durch die Unterscheidung
von Kunst- und Kernform die Architektur zu einer bloss "anhängenden" Kunst
mache, „wohin doch vielmehr nur das dem gewöhnlichen Wohnbedürfnis dienende
Kunsthandwerk gehöre, welches den Schmuck nur so ansetze, wie an einen Tisch
oder Stuhl." Es bedarf kaum mehr der Ausführung, welche Verkehrtheiten dieses
Urteil enthält. Architektur und Kunsthandwerk unterscheiden sich im Prinzipe durch
nichts als die Gegenstände, und weder in jener noch in diesem sind die Kunst-
formen blosse Anhängsel.