DIE
ORGANIS CHE
scnönmzn
DER
ARCHITEKTURWERKE.
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andere Bedeutung, als am Sockel eines Gebäudes. Wir haben oben
gezeigt, dass der äussere Zweck die Verschiedenheit der architekto-
nischen Ideen in concreto schafft; das System der Kunstformen geht
dagegen hervor aus der inneren Zweckthätigkeit und bildet deshalb
die Summe der Bestandteile der allgemeinen platonischen Idee des
Hauses sowie der übrigen Artefakte, welche sich immer gleich bleibt.
Daraus folgt, dass es für die Gebäude zur Gottesverehrung
keine besondere Formensprache geben kann. Denn nicht der
innere, sondern der äussere Zvaeclc macht sie zu dem, was sie sind.
Kunstformen sind nicht Verzierungen. Dem architekto-
nischen Organismus können formelle Bildungen angehängt werden,
Ornamente, welche teils eine indifferente Beschaffenheit haben und
lediglich als Schmuck dienen, teils aber auch den Zweck des Ganzen
oder endlich den Zweck des Gliedes verbildlichen, welches ihr Träger
ist. Das sind symbolische Ornamente. Während aber die Kunst-
formen dem ästhetischen Organismus wesentlich sind wenngleich
nicht dem bloss praktischen so ist dies bei den symbolischen Or-
namenten keineswegs der Fall; sie hängen dem Artefakt bloss an,
und durch ihr Wegfallen wird die organische Gestalt in nichts beein-
trächtigt. Die Sonderung der ästhetischen Glieder vollzieht sich natur-
gemäss stets plastisch; I) daher können aufgemalte Verzierungen von
vornherein nicht Kunstformen sein. 2)
1) Vielleicht erklärte Kant gerade mit Rücksicht auf diesen Umstand die Bau-
kunst für einen Zweig der Plastik.
2) Karl Böttich er, dessen bleibendes Verdienst die theoretische Aufdeckung
der Verschiedenheit der Kunstform von der YVerkform ist, hat den Unterschied von
Kunstform und symbolischem Ornament nicht bemerkt. S0 rechnet er z. B. aufge-
malte Fascien und Schnüre zu den Kunstformen, überhaupt das ganze Rüstzeug der
Polychrornie des antiken Tempels. (Vergl. seine „Tekt0nik der Hellenen",
2. Aufl, Berlin 1874, I, S. 91 und passim). Inwieweit er die einzelnen Kunstformen
richtig erklärt hat oder falsch, und inwieweit seine historischen Darlegungen anfecht-
bar sind, ist für das Verdienst Böttichers gleichgültig. Semper hat die Unterschei-
scheidung von Kunst- und WVerkformen an einer Stelle seines "Stils" ausdrücklich
verworfen (I, S. 415), indem er glaubte, die künstlerischen Formen der Bauwerke
geschichtlich als ursprünglich rein konstruktive Werkformen erklären zu sollen. So
z. B. erklärt Bötticher die Säulenkannelur als eine Kunstform, welche das AufStfCben
der Säule versinnlicht, Semper leitet sie von einer früheren Hohlkörperkonstruktion
in Metallblech her (a. a. O. II, S. 399, I, 342 f., 364, 408). Es liegt aber auf der
Hand, dass bei der Übertragung in Stein die Form eines durch Fältelung versteiften
Blechhohlkörpers des inneren Grundes verlustig geht, dass sie demnach hier keine
Werkform mehr wäre, sondern eben eine Kunstform, nur jetzt keine unmittelbar
verständliche, sondern eine lediglich konventionelle und dogmatische. Diese
Konsequenz wäre vernichtend für die von Semper selbst eifrig vertretene Allein.